Markt Schwaben:Wenn einer alles kriegt

Lesezeit: 3 min

In vielen Familien mit behinderten und gesunden Kindern, steht die Krankheit im Mittelpunkt. Die Bedürfnisse der Geschwister müssen hintenanstehen. (Foto: Johannes Simon)

Geschwister eines behinderten Kindes kommen manchmal zu kurz. Die Awo Markt Schwaben will ihnen bei einer Veranstaltung im Oktober zeigen, dass sie mit ihren Erfahrungen und Empfindungen nicht allein sind

Von Jessica Morof, Markt Schwaben

Christian wollte schon immer ein Geschwisterchen. Lange hat der 12-Jährige darauf gewartet - und als seine Mutter Karin Wolf dann schwanger war, hat er sich sehr gefreut. Heute ist Christian aber oft genervt von seinem einjährigen Bruder. Klar, manchmal nerven alle kleinen Geschwister. Doch bei Christian und Fabian ist das anders. Denn das Kleinkind hat eine angeborene Zwerchfellhernie - eine Fehlbildung. Die Organe aus dem Bauch rutschen nach oben, sodass Fabian beatmet werden muss und rund um die Uhr Pflege benötigt. Und der Große? "Er muss schon sehr zurückstecken", gibt seine Mutter zu.

Wie Christian Wolf, der wie der Rest seiner Familie eigentlich anders heißt, ergeht es vielen sogenannten Geschwisterkindern; sprich Jungen und Mädchen, die mit einem behinderten Geschwister aufwachsen. Im Landkreis Ebersberg leben insgesamt mehr als 450 behinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen null und 25 Jahren; in ganz Deutschland gibt es etwa zwei Millionen Geschwisterkinder. Nicht alle kommen gut mit dem Druck zurecht, der auf ihnen lastet: Immer funktionieren zu müssen; die eigenen Bedürfnisse stets hinten anzustellen; "nur" an zweiter Stelle zu stehen und weniger Aufmerksamkeit zu bekommen. Um die Geschwisterkinder im Landkreis möchte sich Silke Liebmann vom Kreisverband Markt Schwaben der Arbeiterwohlfahrt kümmern.

Aktuell absolviert die Diplom-Sozialpädagogin eine Weiterbildung im Bereich Geschwisterarbeit. Im Oktober soll der erste Geschwistertag stattfinden: Mit speziell auf sie ausgelegten Spielen und Gesprächsrunden werden sich die Kinder austauschen können und erfahren, dass sie mit ihren Erfahrungen und Empfindungen nicht allein sind. "In einigen Familien fallen die Geschwisterkinder unter den Tisch, weil die Sorge um das kranke Kind im Vordergrund steht", erklärt Silke Liebmann. Nicht, weil die Eltern etwa nachlässig seien, sondern einfach aufgrund der besonderen Situation.

"Christian liebt Fabian abgöttisch", sagt Karin Wolf. Und Fabian freut sich, sobald die Türe aufgeht und der große Bruder heim kommt. "Er macht das wirklich toll; auch mit den Geräten und allem", lobt die Mutter ihren älteren Sohn. Denn trotz Beatmungsgerät und Schläuchen kümmert er sich um den Bruder, trägt ihn herum. Laut Liebmann müssen viele der Geschwisterkinder früh Verantwortung übernehmen, die Eltern bei der Pflege unterstützen und vor allem die eigenen Bedürfnisse zurücknehmen. Bei Wolfs wurde das Wohnzimmer - der bisherige Familienmittelpunkt - zum Kinder- und Krankenzimmer umgewandelt. Der Ort, an dem Christian bisher spielte, fernsah oder an den er Freunde einlud, fiel plötzlich weg. Wegen Fabian muss er nun manche Freiheiten aufgeben.

"In München gibt es einige Angebote für Geschwisterkinder, aber bei uns im Landkreis ist das Thema noch nicht so verbreitet", sagt Liebmann. Dabei benötigten gerade diese Kinder Raum, um offen über ihre Bedürfnisse sprechen zu können. Wenn nicht Zuhause, dann an anderer Stelle. Diesen Raum sollen sie beim Geschwistertag erfahren. Neben Spielen soll es auch eine Gesprächsrunde geben, in der die Jungen und Mädchen einmal ganz frei sagen dürfen, was sie stört, worüber sie sich manchmal ärgern und was ihnen im Alltag fehlt. Sie sollen erfahren, dass auch sie etwas Besonderes sind und tolle Fähigkeiten haben. "Die meisten Geschwisterkinder entwickeln besondere Stärken", erklärt Liebmann. Oft werden sie früher selbständig als Gleichaltrige und entwickeln ein ausgeprägteres Selbstbewusstsein. "Das ist schon eine tolle Leistung."

Natürlich machen diese Jungen und Mädchen auch viele positive Erfahrungen und erleben einen besonderen Zusammenhalt. Aber eben auch Angst. Christian, der sich so auf das Geschwisterchen gefreut hat, wusste von Anfang an, dass es zu Komplikationen kommen kann. Dann die ersten fünf Monate, die der Bruder Fabian im Krankenhaus verbracht hat - drei davon gemeinsam mit der Mutter. "Er hat sich sehr zurückgezogen in der Zeit und wollte nie ins Krankenhaus", erinnert sich Karin Wolf. Nur ein Mal, als der Bruder den Überlebenskampf beinahe verloren hätte, haben die Eltern ihn einfach mitgenommen. "Er sollte den Bruder wenigstens einmal gesehen haben", erklärt sie. Zur eigenen Sorge um den Kleinen kam die fehlende Unterstützung der Eltern hinzu, die häufig im Krankenhaus waren. Ohne gute Freunde, die sich dem großen Bruder angenommen haben, wäre es schwierig gewesen, sagt Karin Wolf.

Darüber hinaus schämen sich Kinder manchmal für die Behinderung des Geschwisters. Wenn sie damit aufwachsen, sind sie selbst die Situation gewöhnt; doch spätestens in der Schule erleben sie, dass ihre Familie anders ist als andere. Deshalb hat Karin Wolf, in deren Verwandten- und Bekanntenkreis sonst keine Kinder mit Behinderung aufwachsen, Christian bereits für den Geschwistertag angemeldet: "Damit er sieht, dass es in anderen Familien auch so ist wie bei uns."

Ob der einmalige Geschwistertag in Zukunft zu einem regelmäßigen Angebot ausgebaut werden kann, hänge von der Nachfrage ab, sagt Gerhard Schönauer, Leiter der Abteilung "Ambulante Dienste für Menschen mit Behinderung": "Das bisherige Konzept basiert auf Gruppenarbeit, es ist keine Therapiesitzung." Trotzdem wäre es für Silke Liebmann erstrebenswert, einen festen Stamm an Geschwisterkindern aufzubauen, die zusammenwachsen, sich auch weiterhin begleiten und gegenseitig unterstützen.

Der Geschwistertag findet am Samstag, 3. Oktober, von 10 bis 15 Uhr in Markt Schwaben statt. Eingeladen sind Kinder ohne Behinderung von mindestens sechs Jahren, die ein chronisch krankes oder behindertes Geschwister haben. Weitere Informationen gibt es bei Silke Liebmann (08121) 22 59 656.

© SZ vom 10.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: