Markt Schwaben:Mal kurz abhauen

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Seit vier Jahren hält Jürgen Sonntag am Markt Schwabener Gymnasium Vorträge vor Schülern. (Foto: Christian Endt)

Jürgen Sonntag verhalf DDR-Bürgern über eine Toilette zur Flucht. In Markt Schwaben erzählt er vom Bau des "Tunnel 57"

Von Viviane Rückner, Markt Schwaben

Es war der längste, tiefste und aufwendigste Fluchttunnel Berlins. Der "Tunnel 57" führte von einer noch aus Kriegszeiten stammenden Außentoilette in der Strelitzstraße 55 im ehemaligen Ostberlin direkt in den Keller einer verlassenen Backstube in Westberlin. Knapp 60 Menschen flüchteten so aus der damaligen DDR. Am Montag erzählte der heute 77-jährige Zeitzeuge und Fluchthelfer Jürgen Sonntag den Schülern der zehnten Klasse im Theatersaal des Franz-Marc-Gymnasiums Markt Schwaben vom Bau des "Tunnel 57".

"Ich habe dabei aus drei Gründen mitgeholfen", sagte Sonntag. Zum einen wegen dem Reiz, ein Abenteuer zu erleben, zum anderen um den Menschen zu helfen, die aus der DDR fliehen wollten. Und vor allem, um ein politisches Zeichen zu setzen. "Und das haben wir geschafft, wir haben die Aufmerksamkeit der Welt auf uns gezogen und gezeigt, dass nicht alle Menschen die Mauer unterstützen", sagte er.

Bei all dem Mut gehörte freilich auch eine gehörige Portion Glück dazu, nicht entdeckt zu werden. Sechs Monate lang bauten die 24 Studenten immer 14 Tage am Stück im Keller der Backstube. "Wir mussten immer darauf achten, nicht aufzufallen und konnten niemandem vertrauen", sagte Sonntag. Nicht einmal seinen Eltern habe er vom Projekt erzählt. Er berichtete von Feldbetten im Keller, Schwierigkeiten mit der Belüftung und mit der Tunnel-Beleuchtung - und Passierscheinen in den Osten.

Begonnen hat all das im Jahr 1964, damals schloss er sich der Gruppe von Fluchthelfer Wolfgang Fuchs an, um mitzuhelfen. "Es passte gerade ganz gut mit meinem Mathe und Physik Studium", erzählte er mit leicht ironischem Unterton. Für die Zehntklässler Anekdoten einer längst vergangenen Zeit, schaffte Sonntag es durch aktuelle Bezüge und seinen Humor aber, den Gymnasiasten seine Geschichte anschaulich zu vermitteln. 90 Minuten lang hielt er die Schüler im Bann und beantwortete ihre Fragen.

140 Meter lang war der Fluchttunnel. Dass er in einer alten Außentoilette endete, lag an einer Fehlberechnung. Im Nachhinein ein "Glücksfall", erinnerte er sich. Am 3. und 4. Oktober 1964 wurden die Flüchtlinge dann im Viertelstundentakt zur Strelitzer Straße 55 bestellt. Dort sollten sie an die Tür klopfen und das Passwort sagen: "Tokio" - die Olympiastadt 1964. 57 Menschen konnten so in zwei Nächten aus der DDR fliehen, daher der Name des Tunnels.

Doch dann flog alles auf. Am 4. Oktober wurde der Tunnel gegen Mitternacht entdeckt, dabei wurde ein Grenzsoldat getötet. Den Fluchthelfern wurde der Tod des Soldaten angehängt, es dauerte bis nach dem Mauerfall, ehe der Irrtum aufgeklärt wurde. "Bis zum Tod glaubte Fluchthelfer Christian Zobel, er hätte den Mord zu verantworten", erzählte Sonntag, "dabei starb der Grenzsoldat Egon Schultz durch die Patronen seiner eigenen Kollegen." Heute gibt es mehrere Film- und Buchdokumentationen zu dem Thema.

Seit 2013 ist es das vierte Mal, dass Sonntag seine Geschichte am Markt Schwabener Gymnasium erzählt. "So einen Vortrag finde ich immer sehr sinnvoll, da bekommt man noch einmal einen ganz anderen Eindruck von dem damaligen Geschehen", sagte Gymnasiastin Leonie Aschenbrenner. Auch Jürgen Sonntags Enkelkinder, die in Markt Schwaben das Gymnasium besuchen, sind von seinem Bericht jedes Mal wieder gefesselt. Lehrerin Gudrun Schäffner sagte, dass durch Zeitzeugenberichte, wie jenen von Sonntag, den Schülern der Geschichtsunterricht anschaulicher näher gebracht werden soll. Gerade für die Zehntklässler ist das Thema interessant, da der Schwerpunkt im Unterricht auf dem Kalten Krieg liegt.

Und auch für Sonntag selbst sind seine Vorträge wichtig: "Ich möchte den Jugendlichen die Erinnerung an das Zusammenprallen vom freien Westen und dem Kommunismus und die Zwänge, die davon ausgingen, weitergeben, um dadurch auch die Wichtigkeit der Demokratie und der Europäischen Union hervorzuheben", sagte Sonntag. 2012 wurde er für seinen Einsatz als Fluchthelfer mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

© SZ vom 26.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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