Konzertkritik:Aufblühende Melodien

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Ein Ereignis besonderer Originalität und Qualität: der Auftritt von "Amarcord Wien" im Seniorenwohnpark Vaterstetten. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Das Quartett "Amarcord Wien" begeistert beim Rathauskonzert Vaterstetten mit Bearbeitungen von Werken Mussorgskis und Saties

Von Claus Regnault

Es gibt Komponisten, die ihre besten Werke nur in einer Fassung für Klavier hinterlassen haben. Sei es, weil sie zu faul waren, sich der Mühe der handschriftlichen Orchestrierung zu unterziehen, sei es, weil sie sich der Kunst der Instrumentierung nicht mächtig genug fühlten. Solche Komponisten waren Modest Mussorgski und Erik Satie, die außerdem gemeinsam hatten, dass sie Alkoholiker bis zur Selbstzerstörung waren. Trotzdem: Ihre hinterlassenen Klavierwerke eignen sich trefflich für die Bearbeitung, das Arrangieren von Orchesterfassungen - und so war den beiden Komponisten das jüngste Vaterstettener Rathauskonzert mit dem Ensembles Amarcord Wien gewidmet.

Ein Hauptwerk Mussorgskis, die "Bilder einer Ausstellung", wurden ja gleich mehrfach bearbeitet - wobei die grandiose Fassung von Maurice Ravel den Sieg in der Publikumsgunst davontrug. Aber auch die Gestalt, welche Amarcord Wien daraus erarbeitet hat, ist nahezu eine Komposition aus eigenem Recht geworden. Die vier Stimmen des Ensembles - Sebastian Gürtler, Violine, Michael William am Cello, Gerhard Muthspiel, Bass und Tommaso Huber, Akkordeon - hellen das nationalrussisch geprägte, eher schwermütige Material auf, machen es durchsichtig.

Diese Komposition stellt ja den Gang durch eine Ausstellung von Gemälden des Mussorgski-Freundes Viktor Hartmann dar, wobei das Thema der Promenade fünfmal jeweils leicht verändert erscheint, gefolgt von der musikalischen Darstellung des wandelnd erreichten nächsten Bildes. Gerade die sehr abwechslungsreiche Gestaltung der Promenade ist ein reizvoll origineller Wurf der Bearbeitung im Vergleich zum Original. Aber auch bei der musikalischen Schilderung der Gemälde bringt das Quartett kammermusikalische Raffinessen ins Spiel, so etwa in "Il vecchio castello", wo der Bassist sein Instrument, statt die Saiten zu zupfen beziehungsweise zu streichen, mit dem Schlagzeug-Schlegel bearbeitet. Hinreißend auch die Version des "Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen", wo vor allem das Akkordeon sich als Charakterdarsteller erweist.

Nicht ganz der brillanten Ravel-Orchestrierung ebenbürtig ist die musikalische Darstellung der Schlussstücke des Zyklus, des Grabescharakters der "Catacombae" und des gleißenden Finales "Das große Tor von Kiew". Aber bei lediglich vier Stimmen kann der Bombast naturgemäß nicht ähnlich überwältigend zum Klangereignis werden wie durch die mehr als hundert Stimmen von Ravels Orchester. Auch ändert dies nichts daran, dass Mussorgski hier insgesamt in einer bemerkenswerten Neukomposition zu erleben war.

Bei Satie nach der Pause wird der Bearbeitungsanteil durch die fabelhaften Arrangements der Amarcords, insbesondere des Geigers Gürtler, noch deutlicher in Richtung einer Neukomposition entwickelt. Die zarten, fast naiven, sich selbst genügenden Melodien Saties sind dafür das geeignete Material.

Dabei kamen die hohe künstlerische Qualität jedes der vier Musiker, ihre Kunst der Charakterisierung und virtuosen Demonstration ihrer Instrumente noch mehr zur Geltung. Sie machten aus den eher neutralen, wenn auch liebenswürdigen Vorgaben Saties Charakterstücke von vielstimmiger Substanz, sie brachten Saties Musik zum Blühen! Höhepunkt war die Bearbeitung seines Chansons "Je te veux", ein bezaubernder Musette-Walzer, dessen Melodie zunächst vom Akkordeon intoniert, und dann vom Cello in einer innigen Kantilene übernommen wird, ein unter die Haut gehender Moment der Zärtlichkeit.

Das Publikum wurde im Laufe dieses Abends im Seniorenwohnpark Vaterstetten zunehmend gewahr, dass dieses Konzert ein Ereignis von besonderer Originalität und Qualität war. Der Beifall war entsprechend.

© SZ vom 01.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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