Ilching:Wo die Liebe hinfällt

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Der Franzose Paul Coulombeau muss als Gefangener auf einem Hof in Ilching mithelfen - und wird ein Freund der Familie. Zahllose Besuche folgen, heute ist seine Tochter Aline Ottinger mit einem Kirchseeoner verheiratet.

Von Anja Blum, Kirchseeon

Rosi Trenkler hat einen ausgeprägten Sinn für die Vergangenheit. Seit Jahrzehnten schon betreibt die Kirchseeonerin Ahnenforschung, außerdem widmet sie sich seit vielen Jahren der Geschichte ihrer Heimat. Und so ist es kein Wunder, dass sie ihre Freundin Aline Ottinger auf etwas ungewöhnliche Weise vorstellt: "Wir kennen uns schon ganz lange, weil ihr Vater als Kriegsgefangener bei meiner Familie war", sagt Rosi Trenkler und strahlt dabei über das ganze Gesicht.

Zum einen, weil diese lange, lange Geschichte eben ganz nach ihrem Geschmack ist, und andererseits, weil sie, wenn man so will, ein gutes Ende gefunden hat. Dort, wo der Franzose Paul Coulombeau einst in Gefangenschaft darbte, lebt heute seine Tochter - samt Kindern und Mann aus Kirchseeon. Aus Krieg sind in diesem Fall also Freundschaft und Liebe entstanden.

Fünf Jahre, von 1940 bis 45, verbringt Coulombeau als Kriegsgefangener in Kirchseeon. Zunächst in einem Arbeitslager am heutigen Gartenweg, dann in Buch, in Ilching und schließlich wieder in Kirchseeon. Er muss als Holzfäller arbeiten und auf Bauernhöfen mithelfen. "Die Zeit der Gefangenschaft hat nicht immer schöne Seiten gehabt", schreibt er gegen Ende seines Lebens, im Jahr 1995, als er für die Süddeutsche Zeitung seine Erinnerungen festhält. "Aber ich war ledig und musste nicht um eine eigene Familie in Frankreich bangen." Ganz im Gegenteil: "Mein Vater war ein Schlitzohr und ein Lebemann, den viele am Ort kannten, vor allem viele Frauen", sagt seine Tochter Aline Ottinger und lacht. "Uns hat er immer von den guten Seiten der Gefangenschaft erzählt."

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(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Aufgereiht zum Familienfoto: Die Familie Lipp aus Ilching, die sich bald mit dem Kriegsgefangenen Paul Coulombeau anfreundete.

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(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Gemeinsam unternahm man Ausflüge, hier etwa an den Kochelsee.

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(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Der Hof der Familie.

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(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Die Freundschaft leben die Töchter Rosi Trenkler und Aline Ottinger (links), die einen Kirchseeoner heiratete, weiter.

Neben Ottinger an einem Küchentisch in Buch sitzt Rosi Trenkler, beide haben dicke Aktenordner vor sich mit zahllosen Dokumenten, Fotos, Briefen, Tagebüchern - Erinnerungen aus den vergangenen acht Jahrzehnten. Die meisten Sätze beginnen die beiden Freundinnen mit "Ach, weißt du noch. . .", und immer wieder müssen sie herzlich lachen über die vielen gemeinsamen Erlebnisse, die ihrer beider Leben geprägt haben. "Letztens habe ich daran gedacht, dass wir damals auf dem Hof ja nur ein Bad hatten, das war dann bei euren Besuchen, wo doch ein Dutzend Leute zusammenkamen, schon ganz schön eng", sagt Trenkler. "Ja, das stimmt", erwidert Ottinger, "aber des is scho irgendwie ganga".

Ottinger spricht einen ganz eigenen Dialekt, ein französisch gefärbtes Bayerisch, so hat sie es von ihrem Vater übernommen. "Im Lager hat Paul Probleme bekommen, weil er die Sprache des Feindes gelernt hat, aber er war halt ein echter Europäer", sagt Rosi Trenklers Mann Sepp, der den Franzosen ebenfalls kannte. Paul Coulombeau habe sich eben für die Menschen interessiert, erzählt auch die Tochter. Er sei selbst in Gefangenschaft immer lebenslustig und offen gewesen. Das ein oder andere Mal vielleicht sogar zu sehr - jedenfalls habe er immer wieder wegen diverser Freundinnen Ärger bekommen mit der Polizei. "Aber lange ist er nie im Gefängnis gesessen, er hatte viele Freunde", erinnert sich Ottinger. Das habe ihm in Kirchseeon diverse Privilegien verschafft.

Besonders gut verstanden haben muss sich Coulombeau mit den Lipps aus Ilching, der Familie von Rosi Trenkler. Gleich am ersten Tag, als er zum Arbeiten auf den Hof kommt, erfährt die Mutter, dass ihr Bruder in Stalingrad gefallen ist, erzählt die Tochter. Aber den Schmerz über diesen Verlust lässt die warmherzige Frau nicht an dem Franzosen aus, ganz im Gegenteil, sie habe gesagt: "Mei, du kannst ja a nix dafür, bist ja selber no so a kloas Buaberl." Nur wenig später verunglückt der Großvater mit seinem Fuhrwerk - und den Sterbenden vom Unfallort heim trägt laut Trenkler der Kriegsgefangene. "Vielleicht waren es diese Schicksalsschläge, die sie verbunden haben", vermutet die Heimatforscherin.

Vom Kriegsgefangenen zum guten Freund der Familie Lipp: Paul Coulombeau. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Eine tiefe Freundschaft habe Coulombeau auch mit der Familie Winhart aus Glonn verbunden, erzählt Aline Ottinger weiter. "Eines Nachts im Winter wollte mein Vater fliehen, zu Fuß bis in die Schweiz." Doch es ist so kalt, dass er nur bis nach Glonn kommt und sich dort zum Aufwärmen in einen Stall legt - den Stall der Winharts. In der Tasche trägt der Flüchtige dabei einen winzigen Kompass, "den hatte ihm jemand in einer Pflaume versteckt geschickt", sagt Ottinger, während sie den kleinen alten Wegweiser zwischen ihren Fingern hin und her wendet.

Nach Kriegsende wird Paul Coulom-beau von den Amerikanern zusammen mit anderen französischen Kriegsgefangenen über die Schweiz in seine Heimat zurückgeschickt. Dort gründet er eine Familie, drei Kinder kommen zur Welt. Doch der Franzose hält stets Kontakt nach Kirchseeon. "Sie haben sich immer geschrieben", sagt die Tochter. Doch erst 1958, also 13 Jahre später, kommt er das erste Mal wieder nach Ilching, diesmal noch alleine.

Dort lernt er Rosi Trenklers Vater Thaddäus Lipp kennen, der seinerseits während des Kriegs nicht daheim gewesen war. Die Freundschaft wächst, es folgen unzählige Besuche und später auch Gegenbesuche, jeweils mit der ganzen Familie. "Ich weiß noch, wir haben als Kinder so gerne mit den Franzosen in der Stube gesessen, Geschichten gehört und gekuschelt", erinnert sich Trenkler, die beim ersten Besuch Coulombeaus gerade mal ein Jahr alt ist. Und ihre Freundin kann sogar aus einem Reisetagebuch ihrer Mutter zitieren: "Sie schreibt, dass wir Kinder immer alle so dreckig waren, und dass wir Nudelsuppe aus dem Strohhalm getrunken haben."

Doch auch später muss der Hof der Lipps für die Kinder beider Familien ein kleines Paradies gewesen sein: "Bei uns war nämlich der Jugendtreff in Ilching", sagt Trenkler. Der Vater ist früh an einem Blinddarmdurchbruch gestorben, weswegen junge Burschen als Hilfen am Hof gerne gesehen sind und sogar Bulldog fahren dürfen. "Bei uns an der Hausbank hat sich alles getroffen, das war lustig", schwärmt Trenkler, "und oben hat man Mama und Oma schnarchen hören". Ebenfalls häufig Gast bei den Lipps ist Sepp Ottinger - heute Alines Ehemann. "So leben meine Nachkommen nun an jenem Ort, an dem ich fünf Jahre verbrachte", schreibt Paul Coulombeau. Und man kann wohl davon ausgehen, dass er darüber nicht sonderlich unglücklich war.

© SZ vom 14.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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