Grafing:Reformatorischer Sündenfall

Lesezeit: 2 min

Grafinger Ökumene-Abend reflektiert Luthers Judenhass

Von Thorsten Rienth, Grafing

Feuer ihren Synagogen, Zerstörung ihren Häusern, Lehrverbot ihren Rabbinern. Es sind Satzfetzen, die man einem Propagandaminister Joseph Goebbels zuordnen würde oder einem Stürmer-Herausgeber Julius Streicher - aber nicht einem Martin Luther. Für die Organisatoren des Grafinger Ökumene-Abends Anlass, den Reformator am Mittwoch kritisch zu reflektieren.

Eingeladen hatten sie Professor Axel Töllner, landeskirchlicher Beauftragter für christlich-jüdischen Dialog und Geschäftsführer der Theologischen Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Neuendettelsau. "Alter Hass in immer neuen Formen - Antijüdische Vorurteile von Luther bis heute", brachte er als Titel in die Grafinger Auferstehungskirche mit. Es ging also weniger um ein Best-Of der schärfsten Luther-Zitate, die dort in der gastierenden Wanderausstellung "Drum immer weg mit ihnen!" nachzulesen sind. Sondern darum, ein paar Schienen durch die Zeitleiste zu verlegen, an der sich Antijudaismus und Antisemitismus bis in die Gegenwart entlangpflanzten.

Luthers "Sündenfall" jedenfalls sei historisch gar nicht so besonders, stellte Töllner klar. "Was er sagte, war damals allgemeines Gedankengut - er hat eine unsinnige Tradition fortgeführt und mit der Autorität seines Namens versehen." Seine Grundhaltung: Juden lebten nach dem Gesetz und gingen damit ins Verderben, während sich Christen an der Bibel orientierten und damit ins ewige Leben gingen. "Es herrschte über die Jahrhunderte aber nicht nur die Unterstellung, dass Juden Christus lästerten", sagte Töllner. Bereichernd seien sie, aussaugend, für ihren persönlichen Profit die Wirklichkeit manipulierend, ausgestattet mit einer Art Geheimwissen, diejenigen, die Brunnen vergifteten, um die christliche Bevölkerung zu vergiften. "Die Vorurteile sind so vielfältig, dass sie jeder jederzeit aufgreifen und zu seinem Nutzen verwenden konnte." Dies ist der Bogen, den Töllner aus der Reformation über ein paar historische Stationen in die Gegenwart spannt. Über die Hamburger Rechtsordnung von 1710, die Juden den Bau von Synagogen verbat, "damit sie Christus zumindest nicht öffentlich schmähen könnten". Zu Heinrich Claß, dem lautstarken Nationalist um die Wende zum 20. Jahrhundert, der die Verbindung knüpfte vom christlichen Antijudaismus zum nationalistischen Antisemitismus.

Ob bewusst oder unbewusst, Antijudaismus sei nach wie vor verbreitet, mahnte Töllner. In einem aktuellen Kinderbuch zum Beispiel, das Jesus betend unter blauem Himmel zeigt, während jüdische Gelehrte - schrullig dargestellte alte Männer - im Dunkeln über ihren Bücherrollen sitzen. "Das schafft schon bei Kindern den Schluss: Jesus gehört nicht zu denen." Oder in einer Karikatur, die Facebook-Gründer Mark Zuckerberg als Krake mit überdimensionierter Hakennase zeigt. "Was hat die Datensammelwut des Facebook-Geschäftsmodells denn mit dem jüdischen Gründer zu tun?"

Ob es denn unter den Wortführern der Reformation auch Gegenstimmen zum Antijudaismus gegeben hätte, wollte eine Besucherin wissen? "Ja und nein", war die Antwort. "Es gab zwar einige wenige, die der Ansicht waren, dass Luther übers Ziel hinausgeschossen ist. Allgemein kann man aber sagen, dass über die Konfessionen hinweg Einigkeit bestand, dass das Judentum eine verkehrte Welt ist."

Umso wichtiger sei heute ein selbstkritischer und reflektierender Umgang mit dem Thema. Dazu gehöre - wie in Grafing gerade der Fall - eben auch eine Luther-kritische Ausstellung in einer evangelischen Kirche.

© SZ vom 17.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: