Grafing:Dichter wie Du und ich

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Mehrere Dichter, einen Philosophen und einen Kritiker verkörpert Michael Lieb in seinem neuen Programm. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Michael Liebs neues Programm lässt Klassiker lebendig werden

Von Wieland Bögel, Grafing

Treffen sich vier Dichter in einer Kirche. Was wie einer der bekannten Klischee-Witze klingt, ist Ausgangspunkt für Michael Jacques Liebs neuestes Programm. Doch um Klischees, das wurde bei der Premiere in der Grafinger Auferstehungskirche schnell klar, geht es hier überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Dabei hätten die Charaktere - zunächst handelt es sich um Goethe, Schiller, Shakespeare und Molière - durchaus Potenzial dafür. Sind sie doch Klassiker, Dichterfürsten gar - und bei Schauspieler Lieb, der sie alle und im Laufe des Abends noch einige mehr verkörpert, eigentlich ganz normale Leute.

Den ersten Auftritt beim "Treffen der großen Dichter" hat Goethe. Einen weiten Weg hat er hinter sich, wie zum Beweis trägt er einen Hut, der stark an das riesige Exemplar von dem berühmten Bild der Italienischen Reise erinnert. Passend zur Reise vom Jenseits ins Diesseits eröffnet er nach einem furiosen Synthesizer-Solo mit dem Gedicht "Das Göttliche" den Abend, zu dem Goethe-Lieb die "edlen, hilfreichen und guten Menschen" im Publikum begrüßt - das trotz rekordverdächtiger Außentemperaturen recht zahlreich den Weg in die Kirche gefunden hat, genau wie die weiteren "Protagonisten" des Abends. Etwa Friedrich Schiller, der seinem alten Freund Goethe seine Flöte - ein altes Familienerbstück - mit den Worten überreicht: "Jetzt flöte uns mal einen", worauf der Beschenkte der Aufforderung mit einem bekannten Kinderlied nachkommt. "Onkel Bill" Shakespeare hat, aus aktuellem Anlass, ein kleines Brexit-Gedicht verfasst. Auch wenn er zugeben muss, nicht so ganz kapiert zu haben, was das mit dem Brexit eigentlich soll, und nüchtern feststellt, "Europa war früher weniger kompliziert."

Komplizierter wird mit jedem neuen Gast auch die Runde der Dichter, Denker - und Kritiker. Ein solcher wurde ebenfalls eingeladen, in Form des vor einigen Jahren verstorbenen Marcel Reich-Ranicki. Seine berühmte schlechte Laune hat auch der Tod ihm nicht austreiben können, gesteigert wird sie noch, als die vier Dichter erklären, noch nie von ihm gehört zu haben. Ruhiger, aber nicht wirklich unkompliziert ist Georg Büchner, der eigentlich gar keine Zeit hat, weil er unbedingt auch im Jenseits weiterschreiben möchte. Ebenfalls in Eile und dazu mindestens so schlecht gelaunt wie der Großkritiker, mit dem er sich auch prompt bissige Wortgefechte liefert, ist der nächste Gast: Friedrich Nietzsche, der sich lauthals beschwert, dass man ausgerechnet ihn in eine Kirche eingeladen hat

Fast wie in einer Talkshow fallen sich die Protagonisten ins Wort, streiten, schimpfen - und rezitieren zwischendurch immer wieder Teile ihrer berühmten Werke, oft mit einem Augenzwinkern. So spielt Goethe die Szene in Auerbachs Keller vor und lässt Mephisto die Tischplatte mit dem Akkuschrauber anzapfen. Shakespeare überlässt es Schiller, die Rede an die Schauspieler aus "Hamlet" vorzutragen - was sogar dem Kritiker lobende Worte abringt, und Nietzsche, der sich über seinen schlechten Ruf als peitschenschwingender Frauenverächter ärgert, will mit dem Gedicht "An den Mistral" seine Feinfühligkeit unter Beweis stellen.

Es sind Szenen wie diese, die die große Stärke von Liebs neuem Programm ausmachen. Dem Grafinger gelingt es, aus den Klassikern, die eigentlich jeder zu kennen glaubt, Typen und keine Klischees zu entwickeln - und gleichzeitig ihre Kunstwerke aus Literatur und Philosophie zur Geltung zu bringen.

© SZ vom 27.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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