Grafing:Behutsame Rückkehr in den Alltag

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Auch wenn Tatortreiniger die Blutspuren der Messerattacke beseitigt haben, ist am Mittwoch in Grafing-Bahnhof das furchtbare Geschehen immer noch präsent

Von Korbinian Eisenberger, Grafing

Die Vögel zwitschern, am Marktplatz in Grafing sitzen die Menschen kurzärmlig draußen - friedliche, fast unwirkliche Szenen, als wäre nichts gewesen. Weiter geht es zum Bahnhof, wo die Züge seit Dienstagabend wieder über die Gleise rauschen: Auf den Treppen zu den Bahnsteigen wurden Blumen niedergelegt, es sind mehr geworden im Laufe des Mittwochs. Eine Frau zündet Kerzen an, faltet die Hände, hinter ihr stehen TV-Übertragungswagen, Reporter sprechen in Kameras. "Herzliche Anteilnahme für die Angehörigen und Freunde des Verstorbenen und der Verletzten", steht auf einem Schild, das noch am späten Montagabend abgelegt wurde, als sich junge Leute an dem Ort des Schreckens einfanden und darüber diskutierten, ob man in Deutschland noch sicher sei.

Dass sich auf dem Kleinstadt-Bahnhof eine Wahnsinnstat zugetragen hat, ist bei aller Ruhe am Tag danach noch immer zu spüren, auch wenn die Tatortreiniger die Blutspuren am Dienstagnachmittag mit Dampfstrahlern entfernt haben. "Es ist ein komisches Gefühl, heute hier zu sitzen", sagt Sofia, 16, und Schülerin aus Aßling. Sie wartet gerade mit Klassenkameraden auf die S-Bahn nach Ebersberg. Dass hier vor 30 Stunden ein 56-jähriger Mann aus Wasserburg mit einem Survivalmesser tödlich verwundet wurde, sei "noch immer schwer zu begreifen", sagt ein S-Bahn-Pendler aus München. Dann steigt er in seinen Zug. Für die Überlebenden muss es weitergehen, auch deshalb hat Cassandra Fürstenau ihren Kiosk am Mittwoch wie jeden Tag um fünf Uhr früh aufgesperrt.

Die 19-Jährige steht hinter ihrem Tresen, schenkt Kaffee ein, kassiert ab. Das Lächeln aber fällt der jungen Grafingerin an diesem Vormittag schwer, die Erinnerungen an den Dienstagmorgen seien noch sehr präsent, sagt sie. Auch da hatte sie die Frühschicht. Kurz bevor sie den Bahnhofsshop aufsperrte, sei ihr ein Mann aufgefallen, der am hintersten Bahnsteig zu einer Bank ging und sich hinsetzte. "Er war barfuß und legte den Kopf auf seinen Wanderrucksack, den er vor sich hingestellt hatte", erzählt Fürstenau. "Ich habe mir überlegt, ob ich zu ihm gehe und ihn frage, ob er Hilfe braucht". Weil sie allerdings so früh und allein ein ungutes Gefühl hatte, entschied sie sich dagegen. Eine halbe Stunde später hörte sie von draußen die Schreie.

Was sich gegen fünf Uhr früh auf dem Bahnsteig wenige Meter vom Kiosk entfernt abspielte, ist am Mittwoch auf den Titelseiten der Tagespresse prominent bebildert. Deutlich mehr Zeitungen als sonst seien ihr geliefert worden, erzählt Fürstenau. Normalität ist am Tag nach der Bluttat eines aus dem hessischen Gießen stammenden Mannes noch nicht eingekehrt. "Der Zug war heute früh leerer als sonst", sagt Busfahrer Hans Kanter, der am Dienstag früh mit dem Auto zu seinem Linienbus nach Grafing fuhr, weil die Zugstrecke gesperrt war. Angst habe er aber keine, sagt er. "Sonst könnte ich meinen Beruf gleich aufgeben."

An Tag eins nach dem furchtbaren Geschehen ist das Medieninteresse in Grafing-Bahnhof immer noch groß. (Foto: Christian Endt)

In der Stadt und im ganzen Landkreis überwog am Mittwoch weniger die Furcht als die Trauer über das was passiert ist. Für die drei Schwerverletzten aus Grafing, den verstorbenen Wasserburger sowie deren Angehörigen und Freunde wurde am Abend ein Gedenk-Gottesdienst abgehalten. Unter den Gästen befand sich nebst lokaler Politprominenz auch Christoph Hillenbrand, Präsident der Regierung von Oberbayern, weil es sich bei dem Verstorbenen "wohl um einen Mitarbeiter" handle, wie Landrat Robert Niedergesäß (CSU) mitteilte. Die drei Grafinger, darunter auch ein Zeitungsausträger der SZ, befinden sich derzeit in Krankenhäusern. Über ihren Zustand gibt die Polizei aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Auskünfte.

© SZ vom 12.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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