Messerstecher-Prozess:"Ich bin rundum der Verlierer"

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Blumen und Kerzen am Tag nach der Tat am Bahnsteig in Grafing-Bahnhof. (Foto: Christian Endt, Fotografie & Lic)

Johannes B. erwischte es von den Überlebenden am schlimmsten: Seit dem Messerangriff am Bahnhof ist der Grafinger arbeitsunfähig und geht am Rollator. Vor Gericht spricht er erstmals öffentlich über die Tat und die Folgen.

Aus dem Gericht von Korbinian Eisenberger

Wenn Johannes B. auf dem Zeugenstuhl sitzt, möchte man nicht meinen, dass der Rollator daneben ihm gehört. Der 59-Jährige ist drahtig und muskulös, trägt Turnschuhe und T-Shirt. B. erzählt, dass er bis vor gut einem Jahr "immer draußen" war, 16 Stunden am Tag, mit seinem Fahrrad, gerne auch mal 60 Kilometer oder mehr, in seiner Freizeit und im Beruf. Der Grafinger war Zeitungsausträger und Hobbysportler, Bergehen und Radeln, "je schneller, desto besser", sagt er. Dann zeigt er dem Richter die Stelle am Rücken, die Verletzung vom 10. Mai 2016, weswegen er das alles aufgeben musste: Das Messer von Paul H. hat ihn direkt neben der Wirbelsäule erwischt.

Zweite Verhandlungswoche am Landgericht München II, am Mittwoch attestiert der Gerichtspsychiater dem Messerstecher von Grafing-Bahnhof zum Tatzeitpunkt vollumfängliche Schuldunfähigkeit. Einen Mann hat Paul H. im Wahn getötet, drei überlebten schwer verletzt, H. hat alles gestanden. Zwei Opfer, beide aus Grafing, hatten mit ihren Verletzungen noch Glück, ihnen geht es zumindest körperlich wieder relativ gut. Am schlimmsten erwischte es den Mann, der jetzt drei Meter vom Beschuldigten entfernt auf dem Zeugenstuhl sitzt, Johannes B., der Grafinger, den viele im Ort kennen, weil er dort 30 Jahre Zeitungen ausgetragen hat.

Gegen halb fünf kam er bei seiner Tour immer am Bahnhof vorbei, 150 Zeitungen auf dem Radl, das Papier wog um die 50 Kilo. Es war schönes Wetter, "die Zeitung war dünn". Er wollte den Packen wie immer beim Bahnhofskiosk abliefern und weiterfahren, als Paul H. ihm unvermittelt von hinten in den Rücken stach. "Ich wollte aufstehen, aber ich konnte nicht", sagt der Grafinger. Der Angreifer habe ihn dann mit großen Augen angeschaut, mit einer Mischung aus Entsetzen und Erschrockenheit, so B. "Den Blick habe ich noch genau vor mir", sagt er.

Johannes B. lag wehrlos am Boden, da kam H. ein zweites Mal auf ihn zu

Damit war es noch nicht vorbei. B. erinnert sich: "Ich habe am Boden gelegen und konnte nicht mehr gehen." H. ging dann erstmal weiter zu den Gleisen und verletzte dort sein letztes Opfer, so schwer, dass der Wasserburger Siegfried W. kurz darauf im Krankenhaus starb. Neben B. standen jetzt zwei Menschen, als Paul H. mit dem Messer in der Hand zurück kam und auf die drei zuging. "Die anderen sind zurückgewichen und haben mich liegen lassen", sagt B. Dann kam die Polizei, und Paul H. ließ sich widerstandslos festnehmen.

Sein Opfer Johannes B. leidet seither unter einer Halbseitenlähmung, er kann den rechten Fuß nur unter stechenden Schmerzen anheben, die eine Oberkörperhälfte brenne dann, sagt er. B. ist zu hundert Prozent arbeitsunfähig, wenn er mehr als 50 Meter geht, brauche er den Rollator. Die Nerven auf der rechten Seite der Wirbelsäule sind durchtrennt, das sagt ein Arztgutachten. "Es hieß, sie wachsen vielleicht wieder zusammen", sagt B. Ein Gerichtsmediziner erklärt, dass dies mittlerweile "sehr, sehr unwahrscheinlich" sei.

Im Leben von B. ist seit 15 Monaten kaum mehr etwas so, wie es vorher war. Und doch wirkt er emotional stabil. Einen Psychologen brauche er nicht, "deswegen kann ich auch nicht wieder auf den Wendelstein steigen", sagt er. Einen psychischen Knacks habe er also weniger, dafür große Wut. Seine Anwältin erklärt, dass B. noch keinerlei Entschädigung bekommen habe, weder vom Staat noch von Organisationen. "Der Angeklagte kostet viel Geld, fürs Opfer hat man gar nichts übrig", sagt B. Der Richter ordnet es so ein, dass der Staat hier wohl noch auf das Gerichtsurteil warte, bevor dann das Opferentschädigungsgesetz greift. Johannes B. sagt: "Ich bin rundum der Verlierer."

Paul H. schaut während B.s Zeugenaussage in dessen Richtung. Damals wollte er B. töten, mittlerweile ist er medikamentös gut eingestellt, so der Psychiater. Wenn an diesem Donnerstag das Urteil gesprochen wird, dürfte ihn eine dauerhafte Unterbringung in einer geschlossenen Forensik erwarten. Im Gerichtssaal will B. schon vom Zeugenstuhl aufstehen, als H. ihn direkt anspricht. "Ich werde versuchen, Sie so gut wie es geht zu entschädigen. Ich werde mir etwas einfallen lassen", sagt er. "Mir tut das ganze unglaublich leid. Ich wollte das nicht." B. schaut zu H. und nickt.

© SZ vom 17.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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