Erholung in Bayern:Ein Stück Hoffnung

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Mit großer Herzlichkeit werden die Anzinger bei ihren Besuchen in Wolinzy empfangen. Durch die Hilfe aus Bayern konnten schon viele Jugendliche einen Beruf erlernen und aus der Gegend wegziehen. (Foto: privat)

Seit 32 Jahren ermöglicht eine Anzinger Initiative Kindern aus der Gegend von Tschernobyl ein paar unbeschwerte Sommerwochen im Landkreis. Auch von finanziellen Engpässen lassen sich die Organisatoren nicht entmutigen

Von Heloise Olufs, Anzing

Als Anna das erste Mal zu Besuch nach Deutschland kam, war sie 17 Jahre alt. Fast erwachsen also - dennoch war sie vor Begeisterung kaum zu bremsen, als sie die Waschmaschine der Gastfamilie sah. Stundenlang saß sie fasziniert davor und schaute dem Drehen der Trommel zu - in ihrer Heimat Wolinzy, einem kleinen Dorf in Weißrussland, gab es so etwas nicht.

Anna ist eines von vielen Kindern, Jugendlichen und inzwischen Erwachsenen, die seit 1991 jedes Jahr für einen Monat aus Wolinzy nach Bayern kamen und kommen, um in einer Gastfamilie zu wohnen. Seit 27 Jahren werden die Vorbereitungen für diese Reise von Ingeborg Nünke, Leiterin der "Anzinger Initiative: Hilfe für Kinder aus der Gegend von Tschernobyl" übernommen. Sie entschied sich als Reaktion auf die Tschernobyl-Katastrophe, jährlich Kinder aus dem verstrahlten und hochgefährlichen Gebiet zu holen. Nicht nur dem Immunsystem der Kinder soll das gut tun - sie sollen auch die Gelegenheit bekommen, ein anderes Land und damit eine andere Welt voll neuer Perspektiven kennenzulernen.

Vor 32 Jahren, am 26. April 1986, ereignete sich der größte und vernichtendste jemals erlebte Unfall, der Super-Gau, im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Pripjat: Aufgrund eines unkontrollierten Leistungsanstieges in einem der Reaktoren kam es zu einer Explosion mit großem Brand. Das Ausmaß an Zerstörung und Verstrahlung der direkt betroffenen Gebiete ist bis heute groß, aber auch viele Länder in Europa waren von der freigesetzten Radioaktivität betroffen, die aus einer wandernden Wolke abregnete. Auswirkungen des Unfalls waren der signifikante Anstieg von Erkrankungen, zum Beispiel Leukämie, sowie ein Anstieg an sozialen und psychischen Traumata.

Wolinzy hat es damals schwer getroffen, denn die Giftwolke wurde gezielt über dieser Region abgeregnet, um stärker besiedelte Gebiete zu schützen. Aus Kostengründen wurde das Dorf nicht evakuiert, weshalb die Bewohner noch heute dort leben und sich von der eigenen, radioaktiven Ernte ernähren. Die kommerzielle Landwirtschaft, früher die Lebensgrundlage der Menschen, musste stillgelegt werden, weitverbreitete Arbeitslosigkeit war die Folge. So gibt es im Ort laut Nünke nur noch einen kleinen Laden mit winzigem Sortiment, der keine Arbeit bietet. Viele Erwachsene ließen den Frust über dieses Leben an den Kindern aus - körperliche Gewalt gehöre zum Alltag. Außerdem flüchteten sich viele Bewohner in den Alkohol, um der Realität zu entfliehen. Von der Hoffnungslosigkeit, die mit diesem Elend einher geht, berichtet auch Nünke, die den Ort schon elf Mal besucht hat: "Die Bewohner haben keine Arbeit und keine Perspektive, das ist ein sterbendes Dorf." Um diesem Leid und dieser Resignation bei der Jugend vorzubeugen und "um den hier lebenden Menschen die unbekannten Opfer der Katastrophe greifbarer zu machen", startete Nünke die Initiative. Jedes Jahr organisiert sie die Busfahrt von 57 Kindern, die alle aus der Schule in Wolinzy stammen. Sie sorgt für die notwendigen Papiere und für passende Gastfamilien im Landkreis, "damit auch ja das richtige Kind bei den richtigen Eltern ist."

Die Kosten der Reise werden entweder von den Gasteltern privat übernommen oder der Verein kommt mithilfe der Spenden dafür auf - "ein Mangel an Geld soll kein Hinderungsgrund für eine Familie sein, ein Kind aufzunehmen", betont Nünke. Als mildtätiger Verein ist die Anzinger Initiative auf Spenden angewiesen, daher gab es in den vergangenen 27 Jahren oftmals finanzielle Engpässe. "Es gab Momente, wo wir die Einladung der Kinder einfach beschlossen haben, obwohl wir das Geld nicht beisammen hatten", berichtet Nünke. Trotzdem kann sie sich nicht vorstellen, die Reise ausfallen zu lassen, und "letztendlich ist das Geld auch immer zusammengekommen".

Neben der Reise, die der Verein den Kindern ermöglicht, vermittelt er ihnen auch Patenschaften. Mit 50 Euro monatlich können die Paten helfen. Dieser Betrag soll bei der Finanzierung der Ausbildung von Nutzen sein und garantieren, dass "die Kinder den Sprung aus dem Dorf schaffen". Seit 2000 haben 70 Kinder einen Beruf erlernt, und ein Großteil von ihnen konnte aus Wolinzy in eine benachbarte Stadt wie Minsk oder Korma ziehen.

Dankbar dafür sind vor allem die Eltern aus Wolinzy: "Das ist ganz wichtig für unsere Kinder. Was die schon alles gelernt und entdeckt haben", schwärmen sie. Aber auch die Gasteltern in Deutschland berichten überaus positiv von ihren Erlebnissen mit den Kindern, so zum Beispiel Elisabeth Mauermeier, die Anna seit mindestens 22 Jahren aufnimmt und inzwischen selbst von Annas Kindern besucht wird: "Ich habe in Anna eine Schwester gefunden, sie ist Teil der Familie. Für mich ist das Ganze immer wieder aufs Neue eine tolle Zeit. Denn gibt es etwas Schöneres, als den eigenen selbstverständlichen Alltag mit einem Kind zu teilen, das sich immer wieder daran erfreut?"

Nähere Informationen zur "Anzinger Initiative: Hilfe für Kinder aus der Gegend von Tschernobyl" gibt es unter www.anzinger-initiative.de oder telefonisch unter (08121) 482 49.

© SZ vom 27.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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