Ebersberg:Mit dem Herzen sehen

Lesezeit: 6 min

Auch wenn Martina und Thomas Hell blind sind, schaffen sie es, ihre Tochter Anja alleine großzuziehen

Von Carolin Fries

Wenn die kleine Anja im Garten das Gras abrupft und in den Mund steckt, dauert es nicht lange, und Martina Hell holt es ihr wieder aus dem Mund. "Bäh", sagt sie dann zu ihrer zehn Monate alten Tochter und kontrolliert mit dem Finger die Backentaschen und die kleinen Fäustchen auf gebunkerten Vorrat. Eine elterliche Routinehandlung, auch für Martina Hell. Obwohl die 34-Jährige weder ihre Tochter noch das Gras sehen kann. Martina Hell und ihr Mann Thomas, 38, sind blind. Ihre Tochter Anja sieht.

Wie viele Blinde oder hochgradig sehbehinderte Paare Kinder bekommen, wird vom Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) nicht erfasst. Viele dürften es nicht sein, Martina Hell kennt lediglich zwei Elternpaare, die ebenfalls blind sind. Das heißt, dass sie auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als zwei Prozent von dem sehen, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt. Martina und Thomas Hell können lediglich hell und dunkel unterscheiden, im Haus erkennen sie tagsüber die Fenster und abends die Lampen. Dass Anja Grashalme abrupft, bekommen ihre Eltern auch ohne zu sehen mit: "Das ist ziemlich laut."

Martina Hell mit Tochter Anja beim Vorlesen mit Hilfe eines 'PENfriend'. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Aber wie bemerken sie die verrotzte Nase, den merkwürdigen Ausschlag, das ins Gesicht gerutschte Mützchen? Wie finden sie das krabbelnde Kleinkind im Haus, wenn es nicht antwortet? Tatsächlich stoßen sie beim Laufen schon mal ihre am Boden spielende Tochter an, die beschwert sich dann auch. Doch die Hells bewegen sich grundsätzlich sehr vorsichtig im Raum, sie bemerken daher sehr schnell Dinge, die ihnen im Weg liegen, erst recht seit Anja da ist. Ihren Alltag meistern sie wie alle Eltern: Mal läuft es gut, mal weniger, oft besser als gedacht. "Ich hätte es mir komplizierter vorgestellt", sagt Martina Hell mit Blick auf die vergangenen zehn Monate. Die gelernte Informatikkauffrau, die zuletzt als Sekretärin gearbeitet hat, hat Elternzeit genommen, Thomas Hell arbeitet Vollzeit als Physiotherapeut in einer Praxis am Ort.

Die beiden werden ihr Kind nicht aufwachsen sehen, jedenfalls nicht mit den Augen. Den frechen Blick der Tochter, die der Frau von der Zeitung den Schlüssel aus der Tasche zieht - sie kennen ihn nicht. Das glänzende Blond des Babyschopfes, das Blau der Augen - wie hübsch ihre Tochter ist, können sie nur ahnen. Ihr Glück, ihre spürbare Zufriedenheit, trübt das nicht, sie werten in anderen Kategorien. Urlaubsglück ist für sie der Geruch der Berge, das Glück des Alltags das Gefühl, dass es Anja gut geht. Martina und Thomas Hell trauern nicht darum, kein Bild von weißen Wolkenformationen am blauen Himmel zu kennen. Sie haben die Welt mit ihren Ohren und Händen entdeckt, ebenso ihre Tochter Anja. Umso mehr freuen sie sich, das tonlose Lächeln ihres Säuglings erlebt haben zu dürfen. Vielleicht nicht das erste, aber immer dann, wenn sie ihre Hände in den ersten gemeinsamen Wochen in diesen Momenten an der Wange ihrer Tochter hatten. Wenn sie erzählen, wie das war, dann gibt es einen Unterschied zu den Geschichten sehender Eltern die von ihrem Kind schwärmen, dem bezauberndsten Wesen, dem sie je begegnet sind.

Am Computer ist die Braille-Tastatur unverzichtbar für blinde Menschen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Vor neun Jahren hat das Ehepaar Hell die Doppelhaushälfte in Aßling gekauft. Vor der Haustür wachsen rosarote Geranien, die pflanzt die Mutter von Thomas Hell. In der Schrankwand steht ein großer Fernseher, der ist (vor allem für Besuch da, schräg darüber dokumentieren Fotos die einschneidenden Erlebnisse der Familie: Die Hochzeit vor acht Jahren, das gemeinsame Kind. Ein Wunschkind. "Wir haben lange überlegt, ob wir uns das zutrauen", erzählt Martina Hell. Irgendwie sei die Richtung immer klar gewesen, gemeinsame Kinder ein Traum. Im Freundeskreis haben sie sich schließlich umgehört, "die haben es auch geschafft", sagt Martina Hell. Doch sei dort immer nur ein Elternteil blind, nie beide, das sagt sie auch. Martina Hell ist als Elternreferentin im BBSB tätig, 7689 Mitglieder hatte der Verein 2015.

Angst davor, dass auch Anja blind sein könnte oder sehbehindert, hatten sie nicht. Da war vor allem die Sorge, lebensbedrohliche Situationen nicht im Griff zu haben. Eine Sorge, die allen Eltern gemein ist. Spätestens, wenn die Kleinen mobil werden, werden die Badschränke mit den Putzmitteln verriegelt und die Steckdosen mit Deckeln gesichert, die Möbelecken bekommen Polster, die Treppen Gitter. Bei den Hells ist das nicht anders. "Ich guck halt zweimal nach, ob die Treppentüren auch wirklich zu sind", sagt Martina Hell. Sie benützt häufig Verben des Sehens, wenn sie erzählt: Dass sie mit Anja Bilderbücher anschaut, und dass man eben schauen müsse, wie sich die Kleine entwickelt. Viel Kontakt mit Sehenden sei dafür ebenfalls sehr wichtig.

Für die Gartenarbeit benötigt Thomas Hell keine Hilfsmittel. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Bislang entwickelt sie sich gut, läuft an den Händen ihrer Eltern durchs Wohnzimmer, zieht sich an der Ofenbank hoch, schmeißt ihr Spielzeug durch die Gegend. Beim Aufräumen hilft sie Martina Hell dann, wenn sie merkt, dass der Mutter ein paar Teile beim Absuchen des Bodens mit den Händen entgangen sind. Sie bringt die Sachen dann. "Anja spürt, dass bei uns was anders ist", sagt Thomas Hell. Beide haben den Eindruck, dass ihre Tochter schon gelernt hat, auf die Behinderung ihrer Eltern einzugehen. "Wenn sie sich freut, dann kichert sie bei uns laut. Bei anderen auch ohne Ton." Auch beim Essen hat Anja gelernt, mitzuhelfen. Damit Martina Hell mit dem Breilöffel in den Mund trifft, muss das Mädchen in ihrem Hochstuhl sitzen und geradeaus schauen. Ihre linke Hand hat Martina Hell dann immer an Anjas Kinn, mit der rechten steuert sie den Löffel. Jegliche Ablenkung führt zu mehr oder weniger großen Schmierereien. Und wenn Anja keinen Hunger mehr hat, weicht sie dem Löffel aus. Eine Herausforderung für Martina Hell.

Sie liest Anja auch Bilderbücher vor, dabei helfen ihr kleine runde Aufkleber, sogenannte Barcodes, die sie mit einer Audiodatei hinterlegt hat. Mit einem Lesegerät, das wie ein überdimensionaler Kugelschreiber aussieht, scannt sie die Punkte. "Da ist ein Fisch", spricht dann der Stift für sie, "und da unten sind Blumen". Mit den kleinen runden Aufklebern beschriften die Hells auch Marmeladengläser oder die Vorräte im Gefrierfach. Im Hause Hell spricht auch die Waage, der Computer liest die E-Mails und die eingescannte Post vor und um das richtige Outfit zu finden, nutzen die Hells ein Farberkennungsgerät. "Wenn die Ansage verschwommen klingt, dann ist es sich nicht so sicher", weiß Martina Hell. Das blaukarierte Hemd ihres Mannes hat es kurz zuvor als "violett, grau" identifiziert.

In der Küche schützt ein Kochbuch zum Probieren vor versalzenem Essen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Natürlich brauchen die Hells diese Hilfen. Außerdem kommen ihre Eltern regelmäßig vorbei, oder die Nachbarn, ein 15-Jähriger aus dem Ort mäht im Sommer den Rasen, das Unkraut rupft Thomas Hell selbst aus dem Hochbeet. Die Böden wischt zweimal im Monat eine Putzfrau, zum Großeinkauf werden sie von einem Bekannten mit dem Auto begleitet, der die Angebote im Supermarkt vorliest. Seit Dezember kommt außerdem für zwei Stunden in der Woche eine Kinderkrankenschwester - eine Leistung der Koordinierungsstelle für Frühe Hilfen (KoKi) des Landratsamtes Ebersberg. Sie wickelt Anja jedesmal, zieht sie komplett aus und wieder an, um sicherzugehen, dass die Eltern nichts übersehen haben: Zecken, Ausschläge, Rötungen, Stiche. Die Kinderkrankenschwester liest Anja auch Bücher vor, zeigt und benennt für sie Dinge, liest Martina Hell die Palette an Breigläschen im Supermarkt vor, begleitet zum Kinderarzt oder hilft beim "Erarbeiten eines neuen Wegs", zuletzt zum Beispiel zur Spielgruppe ins Pfarrheim. Denn nur wenn ein Weg bekannt ist, gehen ihn die Hells auch alleine mit ihren Stöcken. Ein Kinderwagen steht zwar im Flur, doch unterwegs sitzt Anja immer in der Kraxe. Demnächst wollen sie einen Fahrradanhänger zum Hinterherziehen anschaffen: "Die ist schon so schwer", stöhnt Martina Hell.

Beide, sie und ihr Mann, sind Zeit ihres Lebens blind. Martina Hell bekam zu viel Sauerstoff im Brutkasten, Thomas Hell kann aufgrund eines Gendefekts nicht sehen. Als der Arzt Martina Hells Babybauch zum ersten Mal mit dem Ultraschallgerät abfährt, will er wissen, wie die Eheleute mit der möglichen Blindheit ihres Kindes umgehen wollen. Für Martina Hell war klar: "Man bekommt nur, was man auch stemmen kann." Sie hat einen hohen Anspruch an sich, Hilfen nur anzunehmen, wenn sie sie wirklich braucht und nicht aus Bequemlichkeit. Ja, vielleicht würde es schneller gehen, wenn jemand anderes Anja füttern würde. Doch wen stört es, wenn es länger dauert, weil die Löffel nur halb voll sind?

Bei Spaziergängen bewahrt der Blindenstock die jungen Eltern vor Stolperfallen. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Sehende Eltern sind bemüht, ihre kleinen Kinder nicht aus dem Blick zu lassen. Martina und Thomas Hell geben Anja kaum aus der Hand. Sie haben überdurchschnittlich viel Körperkontakt mit ihrem Kind, die Finger ersetzen den prüfenden Blick, ob die Strumpfhose noch richtig sitzt oder die Fingernägel geschnitten werden müssen. Martina und Thomas Hell finden es komisch, dass wildfremde Menschen ihrem Kind in der Bahn die Nase putzen, sie hätte es auch "gesehen", vielleicht eine Minute später. Zuletzt haben sie einen Wanderurlaub in den Bergen gemacht, die Pension kennen sie schon, auf die Touren werden sie begleitet. So eine Begleitung, die man für Familienausflüge zum Beispiel in den Wildpark oder an den See buchen kann, würden sie sich auch im Landkreis wünschen. Außerdem noch die ein oder andere akustische Ampel mehr - sonst fehle ihnen nichts in Aßling. Wenn sie im Rathaus wegen einer Hecke anrufen, die in den Gehweg ragt, dann kümmere man sich darum, erzählen sie.

Im November geht Martina Hell in Teilzeit zurück an ihren Arbeitsplatz. Anja kommt dann in die Krippe. Ihre Mutter freut sich schon darauf: "Dann lernt sie basteln."

© SZ vom 17.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: