70 Jahre Kriegsende:Freischnaps und Marienbestechung

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Josef Blasi musste in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs als Gemeindelehrling in Markt Schwaben Totenscheine für das örtliche Lazarett ausstellen. Das Schicksal eines Italieners bewegt ihn bis heute

Von Isabel Meixner

Die Schüsse der amerikanischen Truppen waren schon zu hören, da konnten die Markt Schwabener Bürger nach Jahren der Entbehrung wieder spüren, wie sich Überfluss anfühlt. SS und Wehrmacht hatten den Ort verlassen, als der Bürgermeister Ende April 1945 beschloss, die üppig gefüllten Depots zu leeren. In der heutigen Sparkasse und der Bimssteinfabrik lagerte ballenweise Stoff, ebenso wurden Berge von Stiefeln und Leder unter die Leute gebracht. Im Oberbräu-Keller schenkte die Gemeinde Tausende Liter Schnaps aus schweren Fässern aus.

Mit Kannen kamen die Menschen angelaufen, unter ihnen auch der 15-jährige Josef Blasi. Als er in den Keller kam, stand der Schnaps bereits 20 Zentimeter am Boden. "Irgendwann hat man die Hähne gar nicht mehr abgedreht und es einfach weiterlaufen lassen", erinnert er sich.

Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde mitgenommen, "ich habe mich noch gefragt, was die Leute mit einer Schreibmaschine wollen". Bauern kamen mit Fuhrwerken, um möglichst viel transportieren zu können, auch Blasis spätere Frau Irmgard schaute, dass sie so viel Stoff wie möglich nach Hause brachte. Noch heute besitzt sie ein Handtuch, das sie damals aus dem Stoff genäht hat. Der unerwartete Überfluss hatte einen ernsten Hintergrund: Im Rathaus war man besorgt, dass die Amerikaner die Schnapsbestände leeren würden und die Situation in Markt Schwaben dann eskalieren könnte.

(Foto: N/A)

Als die amerikanischen Truppen am Morgen des 1. Mai 1945 auf den Marktplatz rollten, blieb es tatsächlich friedlich. Ob es tatsächlich daran lag, dass der Schnaps verschwunden war? Irmgard Blasi hat da eine andere Theorie: "Wir haben die Mutter Gottes bestochen." Sie hatte den Mai-Altar in der Kirche St. Margareth zu Ehren der Maria in jenem Jahr besonders schön geschmückt. "Der Mesner hatte mir noch gesagt: Wir brauchen mehr Blumen, damit Gott hilft", sagt die 86-Jährige und lacht. Denn sie weiß: Wahrscheinlich gibt es einen viel irdischeren Grund, warum Markt Schwaben friedlich eingenommen wurde.

Und der heißt Lorenz Ostermayr. Der gebürtige Markt Schwabener hatte Jahre zuvor in New York gelebt und sprach daher fließend Englisch. Als die Amerikaner anrückten, lief er ihnen mit drei Kriegsgefangenen und einer weißen Fahne in der Hand über die Felder entgegen. "Das war unser Glück", glaubt Josef Blasi.

Als Ostermayr sich mit dem Panzerkommandanten unterhielt, stellte sich heraus, dass beiden in New York in derselben Straße gewohnt hatten. Das Eis war gebrochen. Ostermayr erzählte dem Amerikaner, dass der Ort nicht verteidigt werde. Die SS hatte sich bereits ein paar Tage vorher aus dem Staub gemacht, ebenso die Wehrmacht. Sie wussten, dass der Krieg verloren war.

Dann, der Gottesdienst war gerade vorbei, rückten die Befreier ein. Kein einziger Schuss fiel. "Wir haben uns diesen Moment herbeigesehnt", sagt Irmgard Blasi, die in der Gschmeidmachergasse im Ortszentrum aufwuchs. Sie gesteht aber, was sie beim Anblick der Panzer empfand: "Ich habe mich zu Tode gefürchtet." Eine falsche Reaktion, und Markt Schwaben wäre in Schutt und Asche gelegt worden.

Der damals 15-jährige Josef musste im Standesamt Totenscheine wie den eines jungen Italieners ausstellen. (Foto: Christian Endt)

Ihr späterer Mann Josef saß zu dieser Zeit im Rathaus, auch wenn ihn seine Mutter an jenem Morgen gar nicht hatte gehen lassen wollen. Eigentlich hatte den 15-Jährigen drei Wochen vor Kriegsende der Einberufungsbefehl zur SS erreicht, doch sein Vater sagte: "Dein Bruder ist schon gefallen, du darfst mir nicht auch noch gehen." Gleiches kam vom Bürgermeister: "Du darfst nicht fort."

Der 15-Jährige war in diesen Tagen unvermittelt vom Lehrling in der Gemeinde zum Leiter des Standesamts aufgestiegen, weil die Standesbeamtin mit ihrem Vater, dem NSDAP-Ortsgruppenleiter, geflohen war. Plötzlich seien amerikanische Soldaten an jenem Tag die Treppen hinaufgestürmt, erinnert sich Blasi. Sie zerstörten das Telefon, suchten nach Handfeuerwaffen und verlangten den "Burgermoasta". Blasi stieg in ihren offenen Jeep und brachte sie zu dessen Haus.

Was er bei dem Rückkehr zum Rathaus erlebte, wird der Rentner sein Leben lang nicht vergessen: Auf dem gesamten Marktplatz standen rund 50 KZ-Häftlinge, die ein paar Tage zuvor aus dem Todeszug bei Poing geflohen waren und sich hatten verstecken können. "Das waren Gestalten . . . unglaublich, wie die ausgeschaut haben", sagt der 85-Jährige. Und es wurden immer mehr. Die ausgemergelten Menschen erhielten Lebensmittelmarken und wurden ins Unterbräu gebracht, wo der Markt Schwabener Arzt Fritz Lichtenegger in den letzten Kriegsmonaten ein Hilfslazarett eingerichtet hatte. Einige Häftlinge überlebten die Strapazen nicht.

Es war Blasi, der die Totenscheine ausstellen musste. Ob ihm das nah gegangen ist? Der langjährige Gemeindearchivar überlegt, dann schüttelt er den Kopf: "Ich war 15. Ich habe nur das Kriegsgrauen gekannt. Da ist man abgestumpft."

Und dennoch: Ein Schicksal, von dem er später erfahren hat, berührt ihn bis heute. Es ist das des jüdischen Jungen Luciano Anticoli, den Blasi zwar nicht persönlich kennengelernt hat. Aber er hat dessen Totenschein ausgestellt, mit einem Fehler im Namen, wie er gleich sagt. Luciano war der jüngste von vier Brüdern, die von der SS in Rom gefangen und deportiert wurden. Die drei Älteren erlebten das Kriegsende nicht. Luciano kam nach Auschwitz, dann nach Buchenwald. Er starb am 20. Mai 1945 im Alter von 18 Jahren, knapp zwei Wochen nach der deutschen Kapitulation.

Die Tage nach ihrer Ankunft waren die Soldaten damit beschäftigt, ein Haus nach dem anderen zu durchsuchen. In Baracken in der Finsinger Straße, in der ursprünglich französische Kriegsgefangene untergebracht waren, fanden die Amerikaner brisante Dokumente: die Personalunterlagen der Ingenieure, die die Vergeltungswaffe 2 mitentwickelt haben.

Auch der Bauernhof von Josef Blasis Eltern in der Poinger Straße wurde durchsucht. Eingebrockt hatte das ihnen ausgerechnet ein befreundeter französischer Kriegsgefangener namens Roger. Im Wald haben die Amerikaner beschlagnahmte Privatautos versteckt, erzählt Blasi. Roger habe sich eines genommen und damit heimfahren wollen. Er stellte es auf dem Hof der Blasis ab - wo es dann von den Amerikanern gefunden wurde. Das Hauptproblem: Im Wagen prangte ein SS-Emblem. Als Josef Blasi abends nach Hause kam, lief die Durchsuchung bereits. Nazi-Gegenstände wurden keine gefunden. "Meine Mutter war völlig erledigt", erinnert er sich. "Sie hatte Angst, dass wir erschossen werden."

Eine berechtigte Befürchtung: Zwei Tage nach ihrer Ankunft in Markt Schwaben hatten die Truppen bereits beim Lazarettarzt Lichtenegger eine SS-Uniform gefunden. Er wurde nach kurzer Verhandlung erschossen. Ausgerechnet der zuvorkommende Herr Lichtenegger, der sich als uneheliches Kind so weit nach oben gearbeitet hatte, sagt Irmgard Blasi. Dann überlegt sie kurz und fasst zusammen: "Aber eigentlich sind wir gut mit den Amerikanern ausgekommen." Gott sei Dank? Nun ja: Der Dank gilt wohl eher der Gottesmutter.

© SZ vom 02.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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