Ebersberg:Die Weltenübersetzerin

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Ihren freien Tag, den Montag, verbringt Judith Seibt bei den Asylbewerbern entweder im Containerdorf am Erlberg oder in der Turnhalle des Gymnasiums. (Foto: Christian Endt)

Judith Seibt ist berufstätig und Mutter von drei Kindern. Trotzdem gehört sie zum harten Kern der Markt Schwabener Flüchtlingshilfe und koordiniert dort den Arbeitskreis "Alltagsmanagement"

Von Thorsten Rienth

Alltag kann gnadenlos sein. Etwa wenn in der S-Bahn der Kontrolleur kommt, der Zug gerade im Innenraum fährt, aber das Ticket nur für den Außenraum gilt. "Da gibt es Leute, die haben 180 Euro bezahlt - weil sie innerhalb von ein paar Tagen dreimal mit dem falschen Ticket unterwegs waren", erzählt Judith Seibt. Nicht, weil sie Geld sparen wollten. Sondern weil ein deutscher Fahrkartenautomat eine andere Welt ist für einen Flüchtling aus Eritrea. In dem Land gibt es eine einzige Eisenbahnstrecke. Planmäßig ist darauf nur ein Ausflugszug unterwegs, gezogen von einer alten Dampflokomotive. Leute wie Judith Seibt versuchen den Asylbewerbern in solchen Situation zu helfen.

Die Markt Schwabenerin ist Übersetzerin. Keine, die nur Sprachen übersetzt. Sie übersetzt Welten. Die Kriegswelt in die deutsche Welt. Bei den Markt Schwabener Flüchtlingshelfern leitet sie den Arbeitskreis "Alltagsmanagement". Das Alltagsmanagement ist eine von mehreren Gruppen, in denen die Ehrenamtlichen ihre Hilfe in der Gemeinde bündeln. Das koordinierte Vorgehen ist bitternötig: Fast 300 Flüchtlinge leben zurzeit in Markt Schwaben. 60 in Containern, etwas mehr als 230 in der Turnhalle.

Am Anfang, vor ein paar Monaten noch, hätten vor allem die Grundbedürfnisse gezählt, sagt Judith Seibt. Alles, was im direkten Blickfeld liegt: warme Suppen, passende Schuhe, Küchensachen für die Containerküche, Betten, die aufgebaut werden müssen. Dinge, die akut sind, wenn Flüchtlinge ankommen. Wenn jemand sein Leben in eine Sporttasche gepackt hat und weggerannt ist.

Dann folgt ein Paradoxon: Je mehr dieser Bedürfnisse gedeckt sind, desto größer wird der Aktionsradius der Helfer. Das Blickfeld weicht dem Weitblick. "Anfangsstrukturen sind halt keine Dauerstrukturen", sagt Judith Seibt. Und Alltag ist erst dann richtiger Alltag, wenn er allgegenwärtig ist - nicht physisch, sondern kognitiv. "Dann, wenn sie ihr Umfeld verstehen", erklärt die Flüchtlingshelferin. "Wenn sie sich darin auskennen, wenn sie wissen, wo sie was bekommen. Wenn sie in der Lage sind, ihren Alltag selbst organisieren zu können."

Scheinbar banale Dinge sind die Grundlage dafür: Wo sind im Ort die Supermärkte? Welcher ist der mit den Markenprodukten? Welcher der, bei dem es gute Sachen günstig gibt? Verständlichkeiten für den Markt Schwabener, Unbekanntes dagegen für jemanden aus Eritrea, Syrien oder Afghanistan.

Der AK Alltagsmanagement organisiert deshalb Spaziergänge durch die Stadt, in denen die Helfer diese Unterschiede zeigen. Sie nehmen die Flüchtlinge mit zum Fahrkartenautomaten am Bahnhof und erläutern das Tarifdickicht. Was muss für die Fahrt zum Sprachkurs nach München auf dem Ticket stehen? Was, wenn es nur zu einem Bekannten nach Poing gehen soll? Ab wie vielen Fahrten würde sich eine Wochenkarte rechnen? Die Schwierigkeit sei dabei, die richtige Dosis zu finden, sagt Judith Seibt: "Man kann jemanden mit Informationen auch überrennen."

Judith Seibt ist Mutter von drei Kindern und berufstätig. Ihren freien Tag, den Montag, verbringt sie in der Dreifachturnhalle im Franz-Marc-Gymnasium oder den Containern. Nebenher macht sie ihren Kindern Beine, damit die erst ihre Hausaufgaben machen und erst dann Spielen gehen. Und wenn es in Sachen Flüchtlinge etwas zu organisieren gibt, dann ist das meistens abends. Alltagsmanagement hört eben nicht einfach auf, nur weil Geschäfte gerade schließen oder Behörden nicht mehr geöffnet haben.

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Warum das alles? Es sind die Gründe, die von Helfern so oft zu hören sind. Weil zuschauen nicht weiterhelfe. Weil es irgendjemand ja machen müsse. Weil Unterstützung wichtig sei, Menschlichkeit, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft. "Aber auch, weil es mir wirklich etwas zurück gibt." Einerseits Dankbarkeit, andererseits auch ganz Persönliches: "Man lernt, an seine Grenzen zu kommen, eine Art von Grenze, die wir aus unserem Alltag gar nicht kennen."

Das kann auch mal die Grenze zur Frustration sein. "Wenn ich mich zum Beispiel frage, ob der dieses oder jenes jetzt wirklich nicht verstanden hat - oder ob es einfach nur Bequemlichkeit ist?" In Sachen Menschenkenntnis, da seien sie hier alle wahnsinnig gewachsen.

© SZ vom 08.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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