Aßling:Gute neue Heimat

Lesezeit: 3 min

Zehntklässler der Aßlinger Mittelschule produzieren zusammen mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und Berliner Studenten einen Film über Integration

Von Carolin Fries, Aßling

"Und was ist für Sie Heimat?" Gut möglich, dass einem diese Frage in diesen Tagen beim Einkaufen in Aßling gestellt wird. Dann steht eine Gruppe junger Menschen mit Kamera und Mikrofon da und wartet gespannt, wie die Einheimischen antworten. Ist es der Blick über die Wiesen auf die Berge? Oder das Gefühl von Sicherheit und Freiheit? In einem Medienprojekt beleuchten Zehntklässler der Aßlinger Mittelschule zusammen mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und Studierenden der Freien Universität Berlin drei Tage lang den Heimatbegriff, dem sie das Wörtchen "neu" vorangestellt haben. Das Ergebnis - einen Film zum Thema - wollen sie im September in Aßling präsentieren.

Wenn Fatma und Musa Khan über ihre Heimat sprechen, dann ist das meist ein Blick zurück. Das Mädchen aus Äthiopien und der Junge aus Afghanistan, beide 17 Jahre alt, leben im Landkreis Ebersberg, in der Jugendhilfeeinrichtung auf Schloss Zinneberg in Glonn lernen sie mit anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen Deutsch. Fatma hat hier einen Platz in einer Wohngruppe. "Wir versuchen, die Heimat zu vergessen", sagt Musa Khan. Er weiß, dass es klug wäre, sich nicht mit den Erinnerungen zu quälen. "Es war immer Krieg." Zugleich vermisse er so vieles, vor allem seine Familie. Fatma geht es nicht anders, Kontakt mit Vater oder Mutter hatte das Mädchen zuletzt vor zehn Jahren. Seither schlägt sich die zierliche junge Frau alleine durch. "Jetzt haben wir hier eine neue Heimat gefunden", sagt Musa Khan, "eine gute", wie er betont.

Zusammen mit den 21 Schülern der Vorbereitungsklasse V1 und drei Jungen aus Mali, Somalia und Syrien sitzen sie im Klassenzimmer an zusammengeschobenen Schulbänken, um ein Drehbuch zu erarbeiten, das ihre Ideen bestmöglich transportiert. Neun Studierende des Masterstudiengangs am Institut für Medien- und Kulturmanagement stehen den vier Kleingruppen zur Seite. Ein Team will eine Reportage liefern, ein anderes einen nachrichtlich aufgebauten Film über einen fiktiven Nationalitätentag in der Gemeinde. In der Gruppe von Student Marcel Danner, 27, wird eine naive Bloggerin zeigen, wie toll Bayern ist. Die Flüchtlinge hat sie dabei nicht im Programm. "Erst als Flüchtlinge erzählen, was sie an ihrer neuen Heimat schätzen, wird die Bloggerin überrascht feststellen, dass ihr tolles Bayern bunter und vielfältiger ist, als sie es sich vorstellen konnte", erzählt Danner. Kommilitonin Lisa Herzog, 25, und ihre Gruppe planen Interviews mit Flüchtlingen und Helfern, die 16 Jahre alte Luise wird die Interviews vor der Kamera führen und moderieren. Seit knapp vier Jahren hilft sie einer syrischen Familie in Grafing, einmal in der Woche arbeitet sie bei der Tafel. "Ich rede gerne und viel", sagt das Mädchen. Sie will die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge dokumentieren. "Ich kenne viele, denen es nicht gefällt, beispielsweise weil die Unterkünfte sehr dreckig sind."

Luise hat im vergangenen Jahr den Quali gemacht, nach dem mittleren Schulabschluss möchte sie an die Fachoberschule. Marcel Danner hat Medienmanagement in Wiesbaden studiert und audiovisuelle Medien in Frankreich, "ich möchte internationale Filmfestivals leiten", sagt er. Die Zusammenarbeit schätzen sowohl die Schüler als auch die Studenten. "Die Ideen ergänzen sich gut", sagt Luise. Marcel Danner und Lisa Herzog sind begeistert, wie reflektiert sich die Jugendlichen aus Aßling schon mit der Thematik auseinandergesetzt haben.

Bereits seit drei Monaten sind alle Beteiligten über eine Whatsapp-Gruppe in Kontakt. Die Neugier sei von Anfang an groß gewesen, sagt Klassenlehrer Thomas Judt. Spätestens seit Anfang Juni, als Instituts-Geschäftsführerin Dagmar Boeck-Siebenhaar mit ein paar Studenten die Schule besuchte, hätten sich die Schüler richtig auf das Projekt gefreut. Schulleiter Michael Pollack ist ebenfalls begeistert: "Im Prinzip geht es darum, Verständnis aufzubauen." Dagmar Boeck-Siebenhaar sagt: "Oft sprechen die hier beteiligten Gruppen übereinander, in diesem Projekt agieren sie miteinander."

An der Tafel im Klassenzimmer stehen seit Mittwoch keine mathematischen Formeln, dort ist mal der Aufbau eines Filmteams skizziert, mal werden verschiedene Kameraeinstellungen vorgestellt. Noch am Donnerstagnachmittag wollten die Schüler und Studenten ihre Ideen in die Praxis umsetzen und mit den Kameras losziehen. Die Ausrüstung hat das Medieninnovationszentrum Babelsberg zur Verfügung gestellt, beim Berliner TV-Sender Alex-TV wurden die Studenten zuletzt technisch geschult. Unterstützt wurde das Projekt außerdem von Grass 21, dem Verein Horizonte, der Stiftung des Kirchenmusikers Hubert Beck und Aßlings Jugendpfleger Erwin Mehl.

An diesem Freitag reisen die Studenten aus Berlin wieder ab, vom Land zurück in die große Stadt. Dort werden sie in den kommenden Wochen weiter am Projekt arbeiten und in Rücksprache mit den Aßlinger Schülern den Film fertigstellen. Auf die Präsentation darf man gespannt sein, vereint sie doch verschiedene Perspektiven: die jungen Aßlinger, die Berliner, die Flüchtlinge - jeder hat seine eigene Definition von Heimat.

© SZ vom 01.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: