Domagk-Gelände:Im Zeitraffer

Lesezeit: 3 min

Zehn Jahre lang haben Mitglieder eines Volkshochschul-Projekts den Wandel im Domagk-Quartier fotografisch begleitet und ein Bildgedächtnis an Menschen und Bauten geschaffen. Die Aufnahmen sind nun im Gasteig zu sehen

Von Stefan Mühleisen

Sigmund Freud hatte ein schönes Bild dafür, wie das Gedächtnis beschaffen ist, er verglich es mit der Stadt Rom: Über die Zeiten sind Bauwerke zu Ruinen zerfallen, auf denen neue errichtet wurden, die ihrerseits wieder zu Ruinen zerfielen. Die Sedimentschichten sind verschüttet, dennoch sind sie da - so wie Erinnerungen weiterleben im Gestrüpp des Seelenlebens. Was uns bleibt, sind Standbilder, Gedächtnis-Schnappschüsse.

Indes wird auch München ganz real umgebaut, die Stadt verändert sich. Häuser werden eingerissen, auf Schuttbergen entstehen Neubauten. Die Erinnerung an den Wandel lebt weiter in den Köpfen der Zeitgenossen - mit etwas Glück bleiben ein paar Fotografien. Und es gibt den großen Glücksfall: Wenn engagierte und begabte Münchner sich zusammentun und über zehn Jahre hinweg die Neuordnung eines Stücks Stadt mit der Kamera festhalten.

Das Ergebnis ist großartig, wie nun in einer Ausstellung der Aspekte Galerie der Münchner Volkshochschule (VHS) im Gasteig zu besichtigen ist. "Domagk - Quartier im Wandel" ist diese Schau betitelt, ein langfristiges Fotoprojekt, welches das Vergehen des alten und das Entstehen des neuen Domagkparks verfolgt, dem Gelände der ehemaligen Funkkaserne in Nordschwabing.

Das einst militärische Gebiet mutierte in den Neunzigerjahren zu einer Künstlerkolonie und Partylocation; seit zehn Jahren wird nun an einem neuen Kapitel in der bewegten Vita dieses Areals gearbeitet: Ein Konsortium zieht hier ein Wohngebiet hoch, es ist noch immer nicht fertig. Von Beginn an sind zwölf Teilnehmer eines VHS-Fotokurses dabei, diesen Umbruch fotografisch zu begleiten. "Es geht ums Sichtbarmachen eines Überschreibungsprozesses, der sich in rasender Geschwindigkeit vollzieht", beschreibt die Leiterin der Aspekte Galerie, Petra Gerschner, den Ansatz des Projekts.

1 / 2
(Foto: Roswitha Schreiner)

Ansichten des Wandels: Jeder der zwölf Fotografen wählte seinen eigenen Zugang, um die Metamorphose des Quartiers zu zeigen.

2 / 2
(Foto: Hans Häring)

Hin und weg: Die Bilderserien von Hans Häring zeigen das Kommen und Gehen der Menschen im Domagkpark. Einst waren es Künstler, dann Bauarbeiter; nun sind es die Bewohner.

Ums Dokumentieren geht es dabei nur bedingt. Gerschner nennte es "künstlerisches Zeitdokument". Jeder der zwölf Fotografen hat sich seinen eigenen Zugang gesucht, um die Metamorphose des Quartiers zu zeigen. Das ist ein kluger Ansatz, denn er verschweigt nicht die Ambivalenz, die der Fotografie seit je her eigen ist: Ob geknipst oder aufwendig arrangiert, das Bild ist immer Dokument und persönliche Aussage zugleich. Der Fotograf will mit dem Bild etwas sagen, bezeugt aber auch die Wirklichkeit. So fügen sich die gut 200 Bilder der Ausstellung zu einem Kaleidoskop aus zwölf Gedächtnissen des Domagk-Quartiers. Es sind sechs Frauen und sechs Männer, zwischen 30 und 70 Jahre alt.

Hans Häring etwa will an die Menschen erinnern auf diesem Areal - und deren Kommen und Gehen: Er lichtete die letzten Künstler der Kreativen-Kolonie ab, fotografierte sie in der immer gleichen Totale, stehend irgendwo auf dem Gelände, die einen lässig, die anderen ernst schauend. Das Gleiche machte er mit den Bauarbeitern sowie mit der neuesten Personengruppe dort: den Bewohnern des Neubaugebiets. Beeindruckend zeigen die Bilder, wie wichtig es ist, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass jeder Einzelne die Stadt und deren Gesellschaft mitgestaltet.

Auch Spuren der Zerstörung gehören zum fotografisch dokumentierten Wandel. (Foto: Reinhard Wilke)

Reinhold Wilke hat dagegen mit sensiblen Auge die dem Abriss geweihten Kasernengebäude festgehalten: Unkraut überwucherte Wege, zersplitterte Fenster. Wie aus einem Füllhorn sprudelt Geröll durchs Fenster in ein Abbruchhaus; daneben hängt die Ansicht einer fast keimfrei wirkenden Bürolandschaft: Zwischennutzung in der Ruinenlandschaft.

Einen anderen besonderen Blickwinkel auf dieses Quartier hat Roswitha Schreiner gefunden: Als die Abrissbagger wüteten, war das Gelände abgesperrt, so schoss sie ihre Bilder durch Schlitze im Zaun. Ihr gelangen intime Blicke auf eine surreal wirkende Welt, in der die Sonne Mauerreste und Wasserpfützen umschmeichelt. Einen poetischen Blick auf die Dinge pflegt Heike Bogenberger. Sie inszeniert die Gegenstände als eine Art "Skulpturen des Alltags", wie Petra Gerschner das nennt: Ein bemitleidenswertes Klavier etwa, das jemand auf die Seite gelegt und zurückgelassen hat.

Viele Fotografien vermitteln diese ganz eigene Melancholie, wenn etwas schleichend verschwindet: Studien der Demontage, des Niederreißens. Dazu Bilder wie kondensierte Erinnerungsfragmente, etwa jene von Steffen Pöhlmann, der körnige Aufnahmen mit einer Lochkamera gemacht hat. Fast vergessen ist übrigens, dass dieses Gelände nach dem Zweiten Weltkrieg als Lager für "Displaced Persons" diente. Urszula Czerska hat beeindruckende Bilder gefunden, daran zu erinnern: Sie machte Detailaufnahmen von Statuen in der Glyptothek, deren zerbrochene Gliedmaßen mit Stahl-Armierungen verbunden sind. Die Bilder zeigen Leerstellen, gegengeschnitten mit Gerüsten von der Domagk-Baustelle. Eine schöne Art - und das gilt für die gesamte Schau - am Stadtgedächtnis mitzuwirken.

Die Vernissage findet am Mittwoch, 5. Oktober, um 19 Uhr in der Aspekte Galerie im Gasteig, 2. Stock, statt. Die Ausstellung läuft bis zum 1. November.

© SZ vom 30.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: