Daten sammeln zu Klima und Wetter:Blühende Tatsachen

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Seit fast 40 Jahren beobachtet Walter Immler für den Deutschen Wetterdienst heimische Pflanzen

Von Christina Rebhahn-Roither

Vor zwanzig Jahren, das war dann 1998. Schauen wir mal, was da aufgeschrieben wurde. Am 21. März hat der Flieder ausgetrieben, und die roten Johannisbeeren." Walter Immler sitzt auf einer kleinen Eckbank in seiner Küche. Hinter ihm hängen rahmenlose Kinderporträts und Naturfotografien an der Wand, vor ihm liegt ein hoher Stapel Tagebücher auf der roten, mit Fruchtmotiven bedruckten Tischdecke. Wie passend, denn Immler notiert in seinen Tagebüchern nicht etwa das gestrige Mittagessen oder Ausflüge, die er mit seiner Frau unternommen hat. Nein, der 81-Jährige beobachtet seit rund 40 Jahren die Erscheinung und das Wachstum von Pflanzen, schreibt seine Erkenntnisse auf und leitet die Daten an den Deutschen Wetterdienst weiter. In der Fachsprache nennt man diesen ökologischen Forschungsbereich "Phänologie".

Obwohl oder vielleicht genau weil der Haarer sich schon sein halbes Leben lang mit heimischen Pflanzen beschäftigt hat - und das mit zunehmendem Alter auch immer intensiver -, kann er sich gar nicht mehr haargenau an die Anfänge seiner phänologischen Karriere erinnern. "Wahrscheinlich über eine Anzeige", sagt er, wenn er nach der Ursprungsmotivation seiner freiwilligen Arbeit gefragt wird. Beruflich hatte Immler rein gar nichts mit Naturphänomenen zu tun, denn er war in der Datenverarbeitung tätig.

Wenn die Salweide mit ihren Kätzchen zu blühen beginnt, meldet Walter Immler das ebenso sofort an den Wetterdienst weiter, wie die Entwicklungsstadien anderer heimischer Pflanzen, die er bei seiner Tour dem Rad beobachtet. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Das aktuelle Heft, in das er seine Natur-Beobachtungen schreibt, ist klein, rosa und trägt den Titel "Tagebuch für die phänologische Beobachtung 2018". Die letzte Anmerkung wurde am 18. März von ihm notiert, an diesem Tag begann die Salweide zu blühen. Insgesamt beobachtet Immler um die 44 Pflanzen, wobei je nach Pflanze unterschiedlich viele Phasen zu protokollieren sind. Bei den Schneeglöckchen geht es zum Beispiel nur darum, ob sie blühen oder nicht, und das kann Immler sogar in seinem eigenen Garten überprüfen. Weizen dagegen sei sehr viel aufwendiger zu beobachten, erklärt er, weil die Pflanze einerseits nicht im eigenen Garten wachse und außerdem mindestens fünf Phasen beobachtet werden müssen. Dazu zählen zum Beispiel Längenwachstum, Blüte und Reife.

Wann welche Pflanze erfahrungsgemäß ungefähr blüht, ist im Tagebuch vermerkt, eine Mappe mit Bildern und Erklärungen zu jeder Pflanze hat Immler vom Deutschen Wetterdienst bekommen. Die tatsächliche Entwicklung der Pflanzen trägt er dann auf den Tag genau in sein Tagebuch ein. April bis Juni ist generell die Hauptsaison für den Hobby-Phänologen. In diesem Zeitraum ist er fast täglich mit seinem Rad auf einer zehn bis zwölf Kilometer langen Strecke unterwegs, die über Ackerwege zu all den verschiedenen Pflanzen führt: "Dann nehm ich mein Fahrrad und fahr meine Runde ab. Und dann hab ich mein Büchlein dabei und schreib es auf. Und wenn ich zuhause bin, wird alles in die Datenbank rein getippt." Auf diese Datenbank hat der engagierte Mann direkten Zugriff, denn er ist Sofortmelder. Früher dagegen schrieb er alles analog auf Papier auf und schickte den Bogen nur zum Jahresende an den Wetterdienst. Wenn Immler verhindert ist, gibt es für den Tag eben keine Aufzeichnung, manchmal geben ihm jedoch die Bauern Auskunft, die ihn schon gut kennen.

Die gesammelten Daten sind laut Immler öffentlich zugänglich und werden nicht nur vom Deutschen Wetterdienst, sondern auch von privaten Instituten und Universitäten genutzt. Einerseits lassen sich daraus Schlüsse für die Klimaforschung ziehen, dafür sind die langfristigen Daten besonders interessant. Aber auch kurzfristige Meldungen sind wichtig, denn diese geben zum Beispiel Aufschluss darüber, wann der Pollenflug beginnt, was besonders für Allergiker von Bedeutung ist: "Wenn ich hier aufschreibe, wann der Hasel geblüht hat, dann ist das quasi der Startschuss", erklärt Immler. Und auch Landwirte können von den Daten profitieren. Der Wetterdienst gleicht dazu die Pflanzen- und Wetteraufzeichnungen miteinander ab und informiert Landwirte darüber, wann und ob heuer am besten gedüngt werden sollte.

Ein Grund, warum der Münchner auch nach 40 Jahren so fleißig beobachtet, ist schlichtweg die Routine und Gewohnheit, zu der die Analyse für ihn geworden ist. Außerdem sieht Immler in seiner Arbeit einen sinnvollen Beitrag, weil möglichst lange Datenreihen vom gleichen Standort für die spätere Verarbeitung sehr interessant sind. Und obwohl er nach eigenen Angaben "keinen grünen Daumen" hat und ihm sogar sein eigener Garten zu groß ist, hat er über die Jahre durchaus Interesse für die Pflanzenwelt entwickelt: "Wenn ich irgendwo weit außerhalb von München bin, dann guck ich schon und denke mir: Mensch, bei denen ist der Weizen ja schon reif, bei uns doch noch nicht."

Und wenn der engagierte Beobachter eines beweist, dann, dass Wetter und Klima tatsächlich mehr sein können, als ein rettendes Smalltalk-Thema in der S-Bahn oder beim verklemmten ersten Date. Der 81-Jährige mit seinem ungewöhnlichen Hobby ist außerdem kein Einzelfall: "Hier in Haar und auch weiter drum bin ich der Einzige. Aber solche Leute wie mich gibt es ungefähr 1500 in Deutschland", sagt Immler. Aktuell werden weitere Phänologie-Interessierte gesucht, was laut Immler unter anderem daran liege, dass manche aufhören, ohne einen Nachfolger gesucht zu haben. Er selbst will das besser machen und jemanden finden, der in seine Fußstapfen tritt: "Ich will das machen, solange es geht. Und dann werde ich mich darum bemühen, dass die Datenreihen weiterlaufen."

© SZ vom 23.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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