Vor 30 Jahren:Kulturschock

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Ängstlich tasten sich Fremde und Einheimische 1986 aneinander heran. Staatliche Strukturen zur Integration gibt es kaum. Unterstützung bekommen sie vom damals gegründeten Arbeitskreis Asyl

Von Walter Gierlich, Dachau

Es war ein Kulturschock für die 18 Iraner, die 1986 als erste Asylsuchende im Landkreis Dachau ankamen. Drei Familien - sechs Kinder und sechs Erwachsene - wurden in einem Haus in Erdweg untergebracht, das der Freistaat angemietet hatte. "Wenn wir durchs Dorf gingen, merkten wir, dass die Leute Angst hatten. Die alten Leute haben hinter dem Vorhang rausgespäht", erinnert sich Amir Khalaj, der mit seiner Frau Mahnas und der dreijährigen Tochter Hanieh in die fremde Umgebung eines bayerischen Dorfes kam. Auch die Iraner waren anfangs ängstlich, mindestens so sehr wie die Einheimischen.

Doch das legte sich schnell. In der Rückschau sind die Khalajs voller Lob für Erdweg und dessen Bewohner. "Ältere Leute sind vorbeigekommen und haben uns Kuchen gebracht", erzählt Mahnas Khalaj noch heute freudestrahlend. Ihr Mann erinnert sich vor allem an den Erdweger Lehrer Dietmar Kutschenreuther. Der habe ihnen abends die Schule aufgesperrt und Deutschunterricht gegeben. "Er ist mit uns auch in die Geschäfte im Ort gegangen und hat uns Waren und Preise erklärt", sagt Amir Khalaj. Sogar gemeinnützige Arbeit für eine 1,50 Mark pro Stunde habe er für sie gefunden. Insgesamt lautet das Fazit der Khalajs über ihre paar Monate Erdweg: "Es war eine kurze Zeit, aber eine sehr gute Zeit."

Das wird auch deutlich, als Amir Khalaj erzählt, dass die Familie Deutschland eigentlich nur als Durchgangsstation nach Kalifornien angesehen hatte, wohin sein Bruder sich aus dem Iran des Ayatollah Khomeini geflüchtet hatte. Doch zum einen habe der Bruder abgeraten, nach Amerika zu emigrieren, wo man damals als Iraner nicht willkommen war. Zum anderen sei der Eindruck von Erdweg so gut gewesen, "dass wir uns entschieden haben, nicht nach Amerika zu gehen".

Nächste Station der Khalajs wurde die Dachauer Altstadt, genauer: ein marodes Haus an der Jocherstraße, dort wo sich heute der Schermhof befindet. Sieben Familien aus dem Iran und aus Polen lebten in dem ziemlich heruntergekommenen Gebäude und mussten sich erst zusammenraufen, was bei der kleinen Zahl von Menschen wesentlich leichter gewesen sein dürfte als heute in den Massenunterkünften mit 300 Personen. Unter anderem trafen die Khalajs dort auf ihre iranischen Landsleute Schiry und Albert Zekharia und auf die Polin Joanna Wierzbanowska.

Mit ihnen und dem Slowaken Lubor Zeman sitzen sie im Frühling 2016 in einer Runde zusammen und erinnern sich an die Zeit vor 30 Jahren, an ihre Gefühle im fremden Land, an die Ungewissheit, was auf sie zukommen würde. Die sechs Leute, die längst alle die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben, machen sich aber auch Gedanken über die Situation der Geflüchteten von heute. Für Mahnas Khalaj sind die Parallelen unübersehbar: "Niemand verlässt ohne dringenden Grund seine Heimat und sein schönes Haus und nimmt das Risiko einer Flucht auf sich."

Flüchtlinge und Helfer feierten 1996 das zehnjährige Bestehen des Arbeitskreises Asyl im Ludwig-Thoma-Haus. (Foto: Toni Heigl)

Für Joanna Wierzbanowska und ihren 1993 an einem Gehirntumor verstorbenen Mann Janosch war es die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl am 26. April 1986, die sie endgültig den Entschluss fassen ließ, Polen zu verlassen, wo der Atomunfall vertuscht wurde. Unzufrieden mit dem politischen System waren sie ohnehin, in dem nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung um die Gewerkschaft Solidarność der Armeegeneral Wojciech Jaruzelski einen Unterdrückungsapparat errichtet hatte. So nutzten sie eine Busreise, die unter anderem in die Bundesrepublik führte, um in München zu bleiben. Zu einem hohen Preis: Die vierjährige Tochter Agnes hatten sie vor der Reise in den Westen quasi als Pfand bei den Großeltern zurücklassen müssen. Erst ein Jahr später gelang es den Großeltern nach Zahlung einer hohen Summe Schmiergeld, die Kleine an der tschechisch-deutschen Grenze an Joanna und Janosch zu übergeben.

Nicht nur für die Flüchtlinge aus dem Orient war Deutschland etwas völlig Neues. "Wir haben zum ersten Mal in unserem Leben eine fremde Kultur kennengelernt", sagt Joanna Wierzbanowska. Und das gleich doppelt: Denn auch ihre Mitbewohner aus dem Iran in der Jocherstraße bedeuteten für sie eine völlig überraschende Erfahrung: "Ich hatte null Ahnung, was für eine Kultur die haben."

Da ging es der jungen Polin nicht anders als den meisten Deutschen, wie sich der Iraner Albert Zekharia erinnert. "Die Iraner sind von der Religion und der Sprache her ganz anders als die Araber, aber die Leute in der Firma haben immer gesagt: Ihr seid alle gleich." Seine Frau Schiry erinnert sich an eine andere Begegnung, die zeigt, wie groß die Unkenntnis über den Iran seinerzeit selbst bei Mitarbeitern des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge war, wie es damals noch hieß. Bei ihrer Anhörung habe der Beamte erstaunt gefragt, warum sie ein Kreuz trage. Dass Christen im schiitischen Iran, wie in den meisten Staaten des Nahen Ostens, seit vielen Jahrhunderten friedlich mit den Muslimen zusammengelebt hatten, sei dem Mann völlig unbekannt gewesen.

Für Schiry und Albert Zekharia war jedoch genau der schiitische Fundamentalismus, der nach Khomeinis Revolution zu herrschen begann, der Grund, der Heimat den Rücken zu kehren. "Sechs Jahre lang haben wir es geschafft, mit dem Khomeini-Regime umzugehen, aber als unsere Kinder nicht länger auf eine christliche Schule gehen durften, war es für uns Zeit, zu gehen", sagt Schiry. Zudem bekamen Christen als "Ungläubige" immer wieder Probleme mit den sogenannten Revolutionswächtern. Gefährliche Schlauchbootfahrten übers Mittelmeer mussten sie damals jedoch nicht unternehmen. Von der Türkei aus erreichten sie mit dem Flugzeug über Ostberlin die Bundesrepublik.

Die Iraner hatten seinerzeit in Deutschland keine Probleme mit der Anerkennung als Asylberechtigte, die sie schon nach wenigen Monaten erhielten, so dass es ihnen erlaubt war zu arbeiten. Albert Zekharia begann bei einer Elektronikfirma, die ihren Sitz zunächst in Karlsfeld hatte und später nach Dachau umsiedelte. Dort blieb er bis zum Sommer 2015, als er nach fast 27 Jahren in Rente ging. Auch Amir Khalaj, der anfangs bei einer Eisenwaren-, dann bei einer Papierhandlung arbeitete, ehe er 1989 bei der MD Papierfabrik anfing, wäre dort wohl bis zur Rente geblieben, hätte das Unternehmen nicht 2007 nach fast 150 Jahren endgültig seine Produktion eingestellt. "Drei Tage bin ich danach herumgesessen, am vierten Tag habe ich als Vertreter bei der Firma Vorwerk angefangen", erinnert sich Amir, der heute bei BMW beschäftigt ist. Stolz merkt seine Frau Mahnas an: "Er ist 30 Jahre in Deutschland und war nur drei Tage arbeitslos."

Nicht ganz so einfach war es für Lubor Zeman, Arbeit in Deutschland zu finden. Er war 1987 aus der damaligen ČSSR geflüchtet, weil er keinen Wehrdienst für das sozialistische Regime ableisten wollte. Die Kriegsdienstverweigerung wurde bei seiner Anhörung im Bundesamt für Flüchtlinge nicht als Asylgrund anerkannt. Aber zurückschicken konnte man den 19-Jährigen dennoch nicht, weil ihm in seiner Heimat eine Gefängnisstrafe drohte. Er wurde in Deutschland geduldet, durfte aber ein Jahr lang nicht arbeiten. Dennoch machte er ganz neue positive Erfahrungen: "Die erste Demokratie habe ich in Deutschland erlebt. Jeder hat hier gleiche Chancen", schwärmt er noch heute. "Mit der Zeit haben wir uns angepasst, und viele Menschen haben uns dabei geholfen" erinnert er sich an die Anfangszeit in Dachau.

Rose Kraus und Martina Scherzer bei der Feier 1996. (Foto: Toni Heigl)

Allen voran war es der Arbeitskreis (AK) Asyl, den Rose Kraus um sich geschart hatte, der sich unermüdlich um die Geflüchteten kümmerte. Anders als heute handelte es sich bei dem AK um ein kleines Häufchen von Helfern, die keinerlei Unterstützung durch Behörden hatten. Auch staatliche Integrationsmaßnahmen gab es damals nicht. Einzig die katholische Erwachsenenbildungseinrichtung Dachauer Forum organisierte und finanzierte Deutschkurse für die Geflüchteten.

Nach einem Jahr gesetzlich auferlegten Nichtstuns fand Lubor Zeman sofort einen Hilfsarbeiterjob. Doch mit dem guten Neuanfang war es schnell vorbei: Bei einem Autounfall wurde Lubor Zeman 1990 so schwer verletzt, dass er drei Monate ohne Bewusstsein auf der Intensivstation lag und insgesamt ein Jahr im Krankenhaus zubringen musste. Bis heute ist er gehbehindert. Unterkriegen ließ er sich nicht: Mit eisernem Willen machte er nach der Entlassung aus der Klinik eine Ausbildung zum Industriekaufmann, da der Abschluss als Elektroniker aus der ČSSR nicht anerkannt wurde. Danach studierte er Betriebswirtschaft, später noch Moralphilosophie. 15 Jahre arbeitete er an der Technischen Universität in München, ehe er als Vermittler zur Agentur für Arbeit in München wechselte. Als wäre das alles nicht genug, engagierte sich Lubor Zeman 20 Jahre lang als ehrenamtlicher Bewährungshelfer am Landgericht München. "Das war sehr hilfreich, auch wegen der Menschenkenntnis, die ich dabei erworben habe", sagt er. Die hilft ihm nun in seiner derzeitigen Arbeit. Seit drei Jahren ist er am Jobcenter beim Landratsamt München tätig: "Meine Aufgabe ist es, Schwächere zu unterstützen."

Schwächere, das sind für die vor 30 Jahren hierher Geflohenen auch die neu angekommenen Flüchtlinge. Joanna Wierzbanowska etwa berichtet, dass sie an ihrer Arbeitsstelle immer wieder Gerüchte über Asylsuchende widerlegen und gegen Vorurteile ankämpfen muss. Zugleich ärgert sie sich über den Rassismus in Osteuropa, etwa in ihrem Heimatland Polen, das keine Flüchtlinge aufnimmt. Und Mahnas Khalaj, die in der Nähe der Flüchtlingscontainer an der Dachauer Lilienstraße wohnt, freut sich bei jeder Begegnung über die Höflichkeit und Freundlichkeit der jungen Männer, deren großes Hobby das Fußballspielen zu sein scheine. Einzig Schiry Zekharia fühlt sich bisweilen etwas beklommen, wenn sie in München verschleierte Frauen sieht: "Das sind genau die, vor denen wir geflohen sind."

Amir Khalaj hat für die Neuangekommenen einen Tipp: "Wenn ich will, dass mich die Deutschen annehmen, dann muss ich arbeiten und die Sprache lernen." Das sei der Schlüssel zur Integration, für die Albert Zekharia seinen persönlichen Maßstab nennt: "Wenn du im fremden Land die Witze verstehst, dann bist du integriert." Dass man auch nach 30 Jahren noch von deutschen Wörtern verblüfft und berührt werden kann, hat Joanna Wierzbanowska an Ostern bemerkt, als sie ihre Tochter und den neugeborenen Enkel in der Klinik besuchte: "Ich habe erstmals das Wort Erdenbürger gehört. So ein schönes Wort!"

© SZ vom 16.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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