Schuldgefühle haben immer nur die Opfer:Der Geschichtenerzähler

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Der ehemalige KZ-Häftling Karl Fruchtmann stirbt im Jahr 2003 in Bremen. Eine Abiturientin recherchiert seine Biografie. (Foto: dpa)

Karl Fruchtmann entgeht nur knapp dem Holocaust. Nach dem Krieg berührt er als Regisseur das Publikum mit Filmen über die NS-Zeit

Von Christiane Bracht, Dachau

"Was hat sich eigentlich geändert seit damals?" Viel, möchte man antworten. Aber die Abiturientin Sophie Weller kommt zu einem anderen Schluss: "Wenn ich mir die Nachrichten anschaue: nicht viel", sagt sie. Dabei denkt sie wohl an die Kriegsgebiete, aber sicher auch an Pegida, AfD und den Umgang mit den Flüchtlingen hier. Monatelang hat sich die 18-Jährige mit der Biografie von Karl Fruchtmann beschäftigt und für ihn ein Gedächtnisblatt entworfen. Zeit genug, nicht nur zu recherchieren, sondern auch zu hinterfragen - das Damals und das Heute. Fruchtmann war Regisseur und Filmemacher - eine interessante Persönlichkeit. Schon im Gymnasium hat er viele Schwierigkeiten mit den Autoritäten, der militärischen Erziehung. Er gibt sich als überzeugter Marxist, muss die Schule wechseln, geht schließlich nach Paris. Sein Abitur kann er erst später in der Schweiz machen. Nach dem Tod seines Vaters kehrt er zurück ins Altenburger Land, schmuggelt jedoch das Weißbuch ein, eine Publikation über die Untaten der Nazis. Er wird zwar nicht erwischt, muss aber 1936 trotzdem ins Gefängnis - sein Bruder ebenfalls. Der Grund: illegale Emigration.

Zunächst sind die beiden in Sachsenburg bei Chemnitz, im Februar 1937 kommen sie nach Dachau. Nach drei Monaten werden sie überraschend frei gelassen, sie sollen die Verkaufsurkunde unterschreiben, damit das väterliche Kaufhaus in den Besitz der Nazis übergehen kann. Karl Fruchtmann gelang es, nach Tel Aviv zu flüchten. Von 1952 an arbeitet er als Manager bei der Fluggesellschaft El Al. Sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit brachte ihn jedoch erneut in Schwierigkeiten. Fruchtmann deckte einen Korruptionsskandal auf, an dem unglücklicherweise sein Vorgesetzter beteiligt war. Plötzlich sah er sich mit Morddrohungen konfrontiert, schließlich kündigte er von sich aus. Er musste sich eine neue Perspektive suchen. 1958, im Alter von 43 Jahren, stellte er sich das erste Mal im Leben die Frage, was er eigentlich machen wollte. Für ihn gab es nur zwei Möglichkeiten: Psychologie oder Filme. "Nicht Psychologie", riet ihm eine Zufallsbekanntschaft im Flugzeug, der selbst den Beruf ergriffen hatte. Und so wurde Fruchtmann Regisseur.

Die Filmindustrie lag nach dem Krieg in Schutt und Asche und so hatte Fruchtmann alle Chancen. Zunächst war er Regieassistent beim WDR, später produzierte er zahlreiche Filme mit Radio Bremen. Seinen großen Durchbruch erlebte er 1968 mit dem Film "Kaddisch nach einem Lebenden". Darin thematisiert er das Schicksal zweier junger Männer im Konzentrationslager. Eine der beiden Hauptfiguren spiegelt sein eigenes Schicksal wider. Er zeigte vor allem Durchhaltevermögen und demonstrierte Stärke, ließ sich nicht unterkriegen. Seiner Tochter Sahra ist noch heute ein Satz in Erinnerung, den sie oft hören musste und immer gehasst hat: "Heulen kannst du hinterher." "Diesen Satz musste Fruchtmann sich vermutlich oft selbst sagen, als er im KZ saß, um nicht an seinem Schicksal zu zerbrechen", sagt Weller. Und dann sagt die 18-Jährige etwas Erstaunliches: Ihr ist aufgefallen, dass es "niemals die Täter sind, die Schuldgefühle haben. Es sind immer die Opfer, die sie entwickeln." Das Fazit am Ende ihrer Präsentation im Kloster Karmel: "Versteinert ist, wer dem Ungeheuerlichen nicht ins Gesicht sehen will."

© SZ vom 01.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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