Lyrische Rezepte fürs Leben:Mittel gegen Miesepetrigkeit

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Die Dachauer sind ein aufmerksames, tolerantes Poetry-Slam-Publikum. In der Schranne wählen sie Kaleb Erdmann zum Sieger

Von Magdalena Hinterbrandner, Deborah Portejoie, Dachau

Protonen sind einfach toll, sie wandern durchs Leben - und sind dabei positiv geladen. Lara Ermer aus Fürth wünscht sich mehr solcher Protonen im Alltag. "Viel zu viele Menschen schmieren sich leidenschaftlich gern Tabasco in die Wunden und wundern sich dann, wenn es weh tut", philosophiert sie. Das Publikum schmunzelt. Offensichtlich kennen viele Laras Problem, ständig schlecht gelaunten Menschen über den Weg zu laufen.

Die Dachauer Kulturschranne ist beim Poetry Slam ausverkauft, die Zuschauer sitzen sogar auf den Fensterbänken. Die meisten Zuschauer sind vertraut mit dem modernen literarischen Dichterwettstreit. Die Regeln setzen den Sprachakrobaten keinerlei Grenzen, was die Auswahl ihrer Themen betrifft. Voraussetzung ist nur, dass der Künstler in einer vorgeschriebenen Zeit - in der Schranne sind es fünf Minuten - einen selbst geschriebenen Text vorträgt und keinerlei Hilfsmittel wie beispielsweise Musikinstrumente, Kostüme oder Bühnenbauten benutzen darf. Der Fokus soll einzig auf der Körpersprache und dem gesprochen Wort der Dichter liegen. Den Gewinner ermittelt das Publikum durch seinen Applaus, der je nach Begeisterung lauter oder leiser ausfällt.

Von Lampenfieber geplagt ist Jonas Brandl aus Dachau, er überzeugt mit einem poetischen Text. (Foto: Niels P. Joergensen)

Aus Städten wie Düsseldorf, Frankfurt oder Fürth sind die Teilnehmer nach Dachau gereist. Drei kommen aus München, Jonas Brandl ist der Dachauer Lokalmatador. Die zehn Künstler im Alter von 16 bis 37 Jahren werden zwei Gruppen zugelost, aus denen jeweils ein Künstler als Finalist hervorgeht.

Fürtherin Lara Ermer macht den Anfang, eine zierliche junge Frau mit feuerroten Haaren. Bei den bayerischen U-20 Meisterschaften belegte sie zuletzt den zweiten Platz. Dementsprechend souverän eröffnet sie den Wettbewerb mit ihrer Generalkritik an den Miesepetern dieser Welt. Andere schlagen politischere Töne an. Ezgi Zengin aus Augsburg beklagt in ihrem Text "Oh liebe Agatha" die deutsche Bürokratie und den Rassismus, der ihr als Deutsche mit ausländischen Eltern entgegenschlägt. "255 Euro kostet es, Deutsche zu werden", sagt sie. Deutsche Straßen, Bier und Käsespätzle liebe sie. Trotzdem erhalte sie immer wieder Absagen für Jobs wegen ihres ausländischen Namens, so schimpft sie.

Die Leute schmieren sich Tabasco in ihre Wunden und wundern sich, dass es weh tut, textet Lara Ermer aus Fürth. (Foto: Niels P. Joergensen)

Der Dachauer Jonas Brandl trägt zum ersten Mal seinen Text "Was ist denn los?" vor. Er wirkt ein bisschen unsicher und verhaspelt sich, obwohl er schon mehrmals in der Schranne auf der Bühne stand. Sein Text ist sehr poetisch, er handelt von den unterdrückten Antworten auf die im Alltag tausend Mal gestellte Frage "Was ist denn los?" Meist laute die Antwort nur: "Danke, alles gut." Die eigenen Probleme werden meistens verschwiegen, findet er.

Ezgi Zezgin aus Augsburg schimpft über den Rassismus in deutschen Behörden und Schwierigkeiten bei der Job-Suche. (Foto: Niels P. Joergensen)

Die jüngste Teilnehmerin, Nuria Glasauer aus Planegg, richtet mahnende Worte an das Publikum. Für ihr junges Alter wirkt die Gymnasiastin sehr reif und selbstbewusst. Sie fordert mehr Toleranz, und weniger Oberflächlichkeit von der Gesellschaft. Tolerant ist ihr Publikum auf jeden Fall: Als Glasauer ihren Text kurz vergisst, verzeihen ihr die Zuschauer und applaudieren, als sie ihren Spickzettel sprichwörtlich aus dem Hut zaubert.

Zum Gewinner des Abends küren die Dachauer einmal mehr Kaleb Erdmann, den sie schon von früheren Slams kennen. Erdmann darf längst als Profi gelten, der sich eine recht große Bekanntheit erarbeitet hat. Sein Vortrag beschäftigte sich mit der Frage, gegen was man im 21. Jahrhundert noch rebellieren kann? Guacamole-Knappheit? Hipster? Oder rebelliert man heute, indem man konservativ und rechts ist, im Gegensatz zu seinen linksliberalen Hippie-Eltern, die "mehr Gras rauchen als ich selbst" und noch zur 68er Generation zählten. Der 25-jährige Münchner tritt am sichersten von allen Teilnehmern auf, er wirkt sympathisch, seine Witze kommen locker und nicht aufgesetzt rüber. Über die Jahre hat er seinen eigenen Stil entwickelt. "Ich möchte Klischees vermeiden und Neues bringen. Das wird oft vernachlässigt", sagt er über seine Texte. Früher habe er noch über ernstere Themen geschrieben, erzählt er, doch inzwischen habe der Unterhaltungswert oberste Priorität. Texte mit einer ernsten Botschaft werden erfahrungsgemäß weniger gefeiert als lustige Texte. "Ich bin da etwas desillusioniert."

Das heißt aber nicht, dass die anderen Texte nicht mindestens genauso berühren. Henrike Klehr aus Düsseldorf erzählt von einem Familienvater, der krank wurde. Er war der Held für sein Kind, doch durch die Krankheit veränderte sich nicht nur der Vater, sondern auch die Beziehung zwischen den beiden. Es wurde komplizierter, der Vater wurde vergesslicher und weniger verlässlich. Das Publikum ist jetzt ganz leise und fühlt mit. Das ist die Vielschichtigkeit, die Poetry-Slams ausmacht.

© SZ vom 06.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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