Literatur:Spannung mit Poesie

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Der dritte Roman von Ingrid Zellner "Gnadensee" führt nach Island, weil die Autorin ein Fan der nordischen Länder ist

Von Dorothea Friedrich, Dachau

"Der Faustschlag traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel und direkt in die Magengrube". Ingrid Zellner stößt schon mit dem ersten Satz die Leser ihres jüngsten Werks "Gnadensee" erbarmungslos ins wilde Geschehen - und lässt sie bis zum sehr entspannten Schluss nicht mehr zur Ruhe kommen. "Gnadensee" ist das dritte Buch der Dachauer Autorin. Es gehört zum Genre der gerade boomenden Regionalkrimis und spielt in Konstanz, Meersburg auf der Reichenau und in Island. Dabei läge es für eine gebürtige Dachauerin doch nahe, die Heimat als Ort des verbrecherischen Geschehens auszuwählen. Warum also Bodensee und Island?

Weil sie den See, seine Landschaft und seine Kultur liebe und weil sie bekennender Fan der nordischen Länder sei, sagt Ingrid Zellner im Gespräch mit der SZ Dachau. Ihre ersten beiden Bücher, "Malin und das weiße Rentier" sowie "Ein Schwede zum Verlieben" sind daher auch in Schweden angesiedelt. "Es war Liebe auf den ersten Blick, als ich zum ersten Mal in Schweden war. Ich habe die Sprache gelernt und das Land in alle Richtungen erforscht", sagt Ingrid Zellner. "Und deshalb musste ins neue Buch auch ein bisschen Norden rein." Warum aber fährt Lona, die "Gnadensee"-Protagonistin überhaupt nach Island? Dazu muss man wissen, dass Lona zusammen mit ihrer depressiven Mutter in einer hochherrschaftlichen Villa auf der Reichenau wohnt. An ihrem 24. Geburtstag verschwindet ihr Freund Dirk. In dessen Konstanzer Wohnung findet Lona einen mysteriösen Dieb. Dirks Schwester, die undurchsichtige Claudia, hat auf ihrer Mailbox eine merkwürdige Mitteilung: "Die Sonne schmeckt am besten rückwärts."

So verwirrend wie dieser Satz ist für den Leser zunächst der Fortgang der Handlung. Lona schenkt sich eine Auszeit in Island, wo sie auf Arnar trifft, den Bruder des drogensüchtigen Brynjar, einen Bekannten des abgängigen Dirk. Brynar lebt in einer Konstanzer WG und könnte etwas über Dirks Verschwinden wissen. Lona und Arnar beginnen zu recherchieren. Nun treten auf und gelegentlich wieder ab: die WG-Bewohner mit ihren eigenen Geheimnissen, der seltsame Tattoo-Studio-Betreiber Morten, die geradlinige Freundin Andrea und diverse weitere Personen. Nicht zu vergessen eine Unzahl von Polizisten und Kriminalbeamten, davon einer mit indischen Wurzeln.

Was sie an- und umtreibt sind Mord und Totschlag, Raub und Drogen, Begierde und Begehren in immer wieder überraschenden Konstellationen. In diesem Netz aus Intrigen und Leidenschaften spinnt Ingrid Zellner geradezu normenhaft ihre Erzählfäden. Das macht sie - anders als die mythischen nordischen Schicksalsgöttinnen - nach einem ausgeklügelten Muster. "Der rote Faden wird von Anfang bis Ende durchgeplottet", sagt sie. Dabei nimmt sie in Kauf, dass ihre Figuren ihr bisweilen entwischen. "Sie haben ihren eigenen Kopf. Da muss ich dann flexibel sein", sagt die Autorin. Mit anderen Worten: Diese Charaktere entwickeln sich. Sie werden vorstellbar, greifbar.

Dazu trägt auch Zellners Diktion bei. Diese ist schon fast poetisch, wenn Ingrid Zellner Orte und Landschaften beschreibt. Der Bodensee und die Reichenau mit ihrer bizarren Mischung aus Plastikgewächshäusern und Unesco-Welterbe sind dann zum Greifen nah. Die isländischen Geysire schießen ihr heißes Wasser sicht- und fühlbar in den Regenwolken-Himmel. Für den Handlungsfortgang verzichtet Ingrid Zellner glücklicherweise auf die inzwischen so beliebte drastische Ausdrucksweise, bleibt aber direkt und wird bisweilen leicht dramatisch. Ausgesprochen nüchtern skizziert die studierte Theaterwissenschaftlerin dagegen ihre "Bühnenbilder" nebst "Requisiten". So trinkt "Hauptdarstellerin" Lona zum Beispiel stets schlichten Kaffee. Da windet Zellner keine Wortgirlanden in der Art von "tiefschwarzem Muntermacher". Ihre Figuren sprechen ihre eigene, sehr individuelle Sprache, wie etwa die zickige WG-Bewohnerin Daniela oder der stets tiefenentspannt auftretende Ermittler Surenda Sinha.

Dass der Kriminalist indische Wurzeln hat, ist möglicherweise einer weiteren Leidenschaft Zellners geschuldet: Auf dem Umweg über die bombastischen Bollywood-Streifen hat sie ihre Faszination für Hindi-Filme und den Subkontinent entdeckt, diesen bereist - und verarbeitet ihre Erfahrungen gerade zusammen mit der Schriftstellerin Simone Dorra in einem auf sieben Bände angelegten Fortsetzungsroman, der Kashimir-Saga. Ob dieses Epos so abwechslungsreich wird wie Gnadensee, wird sich bald zeigen, wenn "Der Weg aus der Finsternis" erscheint.

Ingrid Zellner: "Gnadensee", erschienen im Verlag Silberburg Krimi.

© SZ vom 12.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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