Karlsfeld:Angekommen

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Tihomir, Edvard, Rijad, Ernard. Ardi, George-Alexandru, Tunahan, Tasneem, Jasmin, Sandra, Rahaf, Erleta, Karmen, Zsanett, Kata, Bettina und Kacper. (Foto: Toni Heigl)

Die Karlsfelder Mittelschule ist stolz auf ihre kulturelle Vielfalt. Die Kinder von Asylsuchenden und Migranten lernen in zwei Übergangsklassen zuerst einmal die deutsche Sprache und helfen sich gegenseitig. 16 Schüler erzählen ihre Geschichte von Flucht und Hoffnung

Von Gregor Schiegl, Karlsfeld

Die Mittelschule Karlsfeld ist stolz auf die kulturelle Vielfalt ihrer Schüler und nutzt sie auch im Unterricht; die Kinder lernen voneinander. Neuankömmlinge, die noch kein Wort Deutsch können, kommen in eine der zwei Übergangsklassen. Dort geht es erst einmal darum, sich die notwendigen Sprachkenntnisse anzueignen. In der Übergangsklasse 7a von Doris Radons können die Schüler nach wenigen Monaten schon recht gut Deutsch. Sie kommen aus aller Welt und wohnen verstreut im ganzen Landkreis. Hier erzählen sie von ihren Schicksalen: 16 Geschichten aus zehn Ländern, die auch Krisen und Kriege des Jahres 2014 widerspiegeln.

Bosnien-Herzegowina

Bis heute gehört die bosnisch-herzegowinische Wirtschaft zu den schwächsten Volkswirtschaften Europas. Die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 30 Prozent, bei Jugendlichen sogar bei etwa 70 Prozent. Der Staat steht kurz vor dem Bankrott, die Auslandsinvestitionen liegen auf niedrigstem Niveau.

Rijad, 11: "Ich habe neun Jahre in Amerika gelebt, da bin ich auch geboren. Wir wohnten in einem sehr kleinen Ort zwei Stunden von Chicago entfernt am Lake Michigan. Ein Jahr waren wir in Bosnien, wo meine Verwandten leben. Meine Eltern sind nämlich Bosnier. 18 Jahre lang hat mein Vater in den USA gelebt. Aber es war zu teuer, immer mit dem Flugzeug nach Bosnien rüberzufliegen. Wir haben versucht, in Bosnien zu leben, aber das Land ist arm, deswegen sind wir nach Deutschland gekommen. Wir haben einen Onkel hier, der hat uns geholfen. Hier geht es uns gut. Ich vermisse nur meine Freunde."

Ernad, 14: "Ich bin Bosnier und auch in Bosnien geboren, mein Vater und meine Stiefmutter haben aber in Kroatien gewohnt. Ich war bei Oma und Opa in Bosnien. Mein Vater hat sehr schlecht verdient, nur 300 Euro im Monat, also hat er es in Deutschland probiert. Dort ging es ihm viel besser. Als meine Oma starb, meinte er, ich solle auch nach Deutschland kommen, dort seien auch die Schulen besser. Wir sind dann alle hierhergezogen, auch meine Mutter und meine Schwester."

Bulgarien

In keinem EU-Land sind Löhne und Gehälter so niedrig wie in Bulgarien. Sie erreichen weniger als die Hälfte des EU-Durchschnitts. Entsprechend niedrig ist der Lebensstandard vieler Menschen. Der gesetzliche Mindestlohn beträgt dort 1,04 Euro. Korruption ist immer noch weit verbreitet .

Tihomir, 13 : "Es gibt in Bulgarien nicht viel Arbeit, jedenfalls keine mit offiziellen Dokumenten; das meiste ist Schwarzarbeit. In der Schule war ich auch nicht so gut. Meine Eltern arbeiten jetzt für eine Putzfirma bei MAN. Hier ist es schon besser als in Bulgarien. Ich vermisse nur meine Freunde und Verwandten. Ich bin nur zum Teil Bulgare. Mein Onkel und mein Vater sind Griechen. Auch meine Oma und mein Opa wohnen noch in Griechenland."

Italien

Italien ist bildungs- und arbeitsmarktpolitisches Schlusslicht Europas. Staatspräsident Napolitano spricht von einer "nationalen Katastrophe" angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von mehr als 40 Prozent.

Erleta, 13: "Meine Familie stammt aus dem Kosovo. Wir haben in Venedig gewohnt, aber meine Geschwister hatten keine Arbeit in Italien. Für mich war es auch schwer: Die Schule in Italien ist nicht so gut, hier ist es besser. Derzeit ist Deutschland eines der besten Länder der Welt." Ardi, 14:"Wir kommen ebenfalls aus dem Kosovo, da habe ich etwa sieben Jahre gewohnt und danach fünf Jahre in Italien. Mein Vater hat in Deutschland gute Arbeit gefunden, deswegen sind wir hierhergekommen. Italien steckt nämlich gerade in einer schweren Krise."

Kroatien

Seit sechs Jahren steckt das Land in der Rezession, entsprechend zurückhaltend ist die Lohnpolitik der Unternehmen. Gemeinsam mit Zypern ist Kroatien in der EU das Schlusslicht in Sachen Wirtschaftsleistung. Etwa 16 Prozent der Menschen in Kroatien haben keine Arbeit, bei den unter 25 Jahren alten sind es mehr als 40.

Edvard, 16: "In Kroatien haben wir auch gerade eine sehr schwere Krise. Du arbeitest, aber du bekommst kein Geld dafür, und die Lebensmittel sind sehr teuer. Wir haben in Bjelovar gelebt, 80 Kilometer östlich der Hauptstadt Zagreb. Dort hatten wir ein Haus. Mein Vater hat auf der Baustelle gearbeitet, meine Mutter war Pflegekraft. In Deutschland werden sie viel besser bezahlt. Ich bin zufrieden hier."

Polen

Die Zahl der Polen, die seit 2004 auf der Suche nach Arbeit ausgewandert sind, ist nicht genau bekannt. Je nach Quelle ist von 1,9 bis 2,5 Millionen Menschen die Rede. Inzwischen sind viele wieder zurückgekehrt. Die polnische Wirtschaft wächst, das Bildungssystem wurde grundlegend reformiert. Doch der Druck, der auf den Kindern lastet, ist enorm: Polnische Schüler zählen nicht nur zu den schlausten, sondern laut einer Unicef-Studie auch zu den unglücklichsten der Welt.

Kacp er, 14: "Meine Mutter arbeitet seit zwei Jahren in Deutschland. Sie hilft in der Universität beim Aufräumen. Ich habe bei meinen Brüdern in Grünberg gewohnt, sie sind schon beide volljährig. In der Schule war ich nicht so gut, deshalb hat meine Mutter entschieden, dass ich nach Deutschland komme und hier in die Schule gehe. Jetzt leben wir alle wieder zusammen, bis auf meinen Vater. Zuerst war es für mich sehr schwer, aber mit der Hilfe meiner Lehrerin wurde es jeden Tag besser. Jetzt komme ich hier schon ganz gut zurecht."

Sandra, 13: "Wir hatten nicht viel Geld in Polen und meine Mutter fand nur schwer Arbeit. Hier hat sie Arbeit. Sie putzt Häuser. Das hat sie auch schon in Polen gemacht. Meine Freunde vermisse ich sehr. Einer unserer beiden Hunde ist tot, jetzt wollen wir uns einen Welpen dazuholen. Ich hätte gerne einen Bernhardiner."

Rumänien

Mit einer Arbeitslosenquote von 7,3 Prozent lag Rumänien im vergangenen Jahr unter dem EU-Durchschnitt. Das Hauptproblem ist die Armut. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug 2013 in Rumänien nur 40 Prozent des deutschen.

George-Alexandru, 15, Klassensprecher: "Mein Vater poliert Autos. Er hat schon drei Jahre hier gearbeitet, bevor wir aus Sibiu nachgekommen sind. Meine Mutter ist ausgebildete Krankenschwester. Aber sie macht jetzt erst mal einen Deutschkurs, bevor sie eine Stelle antritt."

Syrien

Zwei Jahre nach dem Beginn des Aufstandes gegen Präsident Baschar al Assad sterben jeden Monat Tausende Menschen im syrischen Bürgerkrieg. Ein Viertel der Gesamtbevölkerung ist auf der Flucht. Weite Teile Syriens stehen nicht mehr unter Kontrolle der Regierung, aber auch in den befreiten Gebieten fehlt es an Lebensnotwendigem. In einigen Landstrichen herrscht die Terrormiliz "Islamischer Staat" und verbreitet Furcht und Schrecken.

Rahaf, 17, ist seit einem Jahr in Deutschland. Als einzige Schülerin der Klasse hat sie kein richtiges Zuhause und muss mit ihrer zehnköpfigen Familie im Dachauer Sammellager für Asylbewerber an der Kufsteiner Straße leben. Sie bewohnt ein Zimmer mit ihrer Schwester und ihrem Bruder: "Eigentlich kommt meine Familie aus Palästina, aber geboren bin ich in Syrien. Ich habe in der Hauptstadt Damaskus gelebt. Wir sind hierhergekommen, weil in unserem Land Krieg herrscht. Zuerst haben wir es im Libanon versucht, aber dort ist das Leben schlecht. Dann sind wir nach Ägypten geflogen und mit dem Schiff nach Italien. Wir waren insgesamt neun Tage unterwegs. Bevor wir nach Deutschland kamen, waren wir auch in Paris. Ich vermisse meine Verwandten in Syrien sehr. Wir sind eine sehr große Familie. Am meisten fehlen mir mein Opa und meine Oma. Wenn der Krieg vorbei ist, wollen wir zurück nach Syrien."

Tasneem, 15: "Rahaf und ich sind Freundinnen, wir haben uns im Asylbewerberheim kennengelernt. Wir sind auch wegen des Kriegs geflohen. In Syrien hatten wir immer Angst, vor allem meine kleine Schwester. Inzwischen ist sie sechs. Ich komme aus Homs (Die Stadt war ein Brennpunkt in der Auseinandersetzung zwischen Rebellen und Assad-Regime, die Altstadt wurde weitgehend zerstört; Anm. d. Red.). Ich habe viele Tote gesehen. Es war schlimm. Wir sind nach Libyen geflohen. Dort waren wir ein Jahr. Von dort sind wir erst nach Italien und dann weiter nach Deutschland. Hier gefällt es mir gut. Nur mit der Sprache tue ich mich noch schwer."

Thailand

Eine Militärjunta hat die Macht in Südostasiens zweitgrößter Volkswirtschaft an sich gerissen. Das vormals boomende Schwellenland verzeichnet nur noch geringe Zuwachsraten, der Tourismus ist eingebrochen, Investoren bleiben fern. Die meisten Thais arbeiten in der Landwirtschaft und in Kleinbetrieben, die vergleichsweise wenig Geld bringen.

Jasmin, 14: "Ich finde, dass Deutschland schöner als Thailand ist. Ich bin erst seit vier Monaten hier, aber ich war früher schon mal in Deutschland. Zum Urlaubmachen ist Thailand zwar schön, aber nicht zum Lernen und zum Arbeiten. Ich bin mit meinem Vater hier. Er ist selbst Deutscher und er ist schon in Rente. Meine Mutter ist immer noch in Thailand. Sie besitzt dort eine Firma, die Etiketten auf Getränkeflaschen klebt."

Türkei

Die Boom-Jahre, als die Wirtschaft der Türkei Wachstumsraten von elf Prozent vorweisen konnte, sind zwar vorbei, dennoch geht es mit dem Land wirtschaftlich weiter aufwärts. Mit etwa zehn Prozent Arbeitslosigkeit liegt die Quote niedriger als in vielen Staaten der Europäischen Union.

Tunahan, 15: "Ich bin aus der Hauptstadt Ankara. Wir wollten in einem anderen Land leben. Die Türkei war uns zu langweilig. Meine Mutter hat hier eine gute Arbeit in einer Drogerie gefunden. Ich bin hier auch sehr zufrieden. Aber ich vermisse meine Freunde und Verwandte."

Ungarn

Jüngsten Erhebungen zufolge lebt mittlerweile beinahe die Hälfte der ungarischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze und muss mit weniger als 260 Euro im Monat auskommen. Unter den Roma erreicht der Wert sogar 92 Prozent. Vor allem die Jungen verlassen Ungarn und studieren und arbeiten lieber im Ausland.

Bettina, 14: "Wir haben in Miskolc gewohnt. Meine Mutter hat als Krankenschwester gearbeitet, mein Vater ist Automechaniker. Er ist immer noch in Ungarn. Ich vermisse meine Verwandten, aber am meisten meinen Opa. Der wohnt noch da."

Karmen, 15: "Mein Vater ist Maler. Er hat schon drei Jahre in Deutschland gearbeitet, und war auch schon auf Baustellen in Norwegen und in der Slowakei im Einsatz. Mein Bruder ist noch sehr klein. Er hat seinen Vater sehr vermisst, also sind wir nach Deutschland gezogen. Ich vermisse unser Haus, das war ein schönes Einfamilienhaus mit einem Garten und eigenen Hühnern. Wir hatten auch einen Hund. Den vermisse ich auch. Leider durften wir ihn nicht mitnehmen."

Kata, 14: "Mein Stiefvater ist Kommissionär im Großhandel. Er hat schon hier gearbeitet und hat uns dann nachgeholt. Hier geht es uns sehr gut, aber meine beste Freundin ist immer noch in Ungarn und fast meine gesamte Verwandtschaft."

Zsanett, 15: "Mein Stiefvater ist Maurer, er hat in Deutschland gearbeitet. Nach einem Jahr sind wir aus Szeged nachgezogen. Meine Mutter arbeitet nicht, weil sie sich um meinen kleinen Bruder kümmern muss; er ist erst ein Jahr alt. Ich vermisse meine Freunde und meine Verwandten. Meine Oma und mein Opa sind noch in Ungarn und meine große Schwester auch."

© SZ vom 02.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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