Hebertshausen:Spurensuche eines Bauernbuben

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Gewährt erstmals Einlass in seine Privatbibliothek in Walpertshofen: Norbert Göttler. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler erzählt über seine Kindheitserinnerungen aus der Nachkriegszeit in Dachau

Von SONJA SIEGMUND, Hebertshausen

Sprache und Musik: Wenn beides gut miteinander abgestimmt ist, können sie sich ergänzen und gegenseitig bestätigen. Einen solchen Glücksfall erlebten die Gäste am Freitagabend mit der Kulturreihe "Poetischer Herbst 2016". Zu einer Lesung mit Musik lud Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler erstmals in seine Privatbibliothek im Ortsteil Walpertshofen. Musikalisch gestaltet wurde dieser kleine, aber feine Kulturabend durch das Karlsfelder Zupfquintett.

In diesem Jahr wählten der Landkreis in Zusammenarbeit mit Kreisheimatpflege und Dachauer Forum das Thema "Lebenswelt(en) - Autobiografien im Dachauer Land". Und wer könnte hierzu mehr beitragen als der gebürtige Dachauer Schriftsteller und Filmregisseur Norbert Göttler, der als ehemaliger Kreisheimatpfleger 2009 den "Poetischen Herbst" initiierte. Göttler, Jahrgang 1959, ist auf dem landwirtschaftlichen Anwesen Walpertshof in der Nachbarschaft zu Konzentrationslager und Schießplatz Hebertshausen groß geworden. Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen schrieb er auf, unter anderem in "Leben im Schatten", 2011 als Vorwort zu seinem Theaterstück über das Leben von Pater Roth erschienen. Zudem las Göttler aus dem Werk "Dachauer Impressionen", in dem seine Reflexionen über Kindheitserlebnisse veröffentlicht wurden: Textbeiträge, die oft nur wenige Zeilen lang sind und mit wenigen Worten starke Bilder zeichnen. So wird Dachau als "spröde Geliebte" beschrieben, umgeben von einer Aura des Grauens, "das uns nur wieder Heimatstadt sein kann, wenn wir nicht aufhören zu erzählen, was gewesen ist", mahnt Göttler.

Als roter Faden zieht sich durch beide Schriften die Spurensuche eines Bauernbuben, der immer wieder auf verbotenem Gebiet Überreste der NS-Verbrechen findet. Da sind die von Brennnesseln und Gestrüpp überwucherten Erdwälle, die abgebrochenen Betonsäulen, Einschusslöcher an alten Gebäuden und Patronenhülsen, die der Junge in gelbem Sand gefunden hat, wo es sonst nur schwarze Moorerde gibt. Da ist von Resten eines zerbrochenen Schubkarrens die Rede, den der Junge aus dem Schlamm eines Sees zog, von Männern in schwarzen Uniformen und von ausgemergelten Gestalten in Holzpantinen, die den See aushoben und anlegten.

Eine kurze, aber wahre Begebenheit aus seiner Kindheit thematisiert Göttler in dem Aufsatz "Die Sängerin". Da sieht man förmlich, wie eine gebückte Frau, in abgenutzte Lodenumhänge gehüllt, auf dem Walpertshof eine Mandoline aus ihrem Rucksack herauszieht und mit feiner, sicherer Stimme Opernarien singt. Die Kinder nennen sie nur die Sängerin und gruseln sich vor ihr. Obwohl bereits die 1960er Jahre geschrieben werden, geht mit dieser wandernden Künstlerin ein Hauch der Nachkriegszeit einher, die auch Erwachsene zum Frösteln bringt. Wenn das letzte Lied verklungen ist, nimmt die Sängerin mit würdevollem Nicken Lebensmittel und Geldspenden entgegen, um sich wieder auf den Weg zu machen. Niemand wird je mehr erfahren, welches Opernpublikum sie einst begeistert hat, ehe Krieg, Alter und Armut sie auf die Landstraßen getrieben hat. "Das dürfte ihr einziger Nachruf gewesen sein. . .", ist Göttler überzeugt.

In einer anderen wahren Geschichte werden die Lebenswege von drei Jugendlichen in der NS-Zeit beschrieben, die allesamt in der Vernichtung enden. Da wird der italienische Junge Nevio Lutelli geradezu sichtbar, der 16-jährig nach Deutschland verschleppt wurde. 1948 im Alter von nur 20 Jahren starb er an den Folgen der harten Zwangsarbeit. Martin Göttler, ein Onkel von Norbert Göttler, ist 17 Jahre, als man ihn 1944 in die Uniform zwang. Der junge Grenadier sollte seine Heimat nicht mehr wiedersehen. Der 14-jährige Michael Wackerl, ein Nachbarsjunge der Göttlers, wurde noch im April 1945 von einem flüchtenden SS-Mann vom Fahrrad gestoßen und starb kurz danach an den Folgen des Sturzes. Und dann gibt es da noch den unbeholfenen Jungen Leonhard, der seine Eltern aus Abenteuerlust bei den Männern in schwarzer Uniform denunzierte.

Was diese Lesung zu einem Höhepunkt im Poetischen Herbst macht, ist das Zusammenspiel von Texten und der musikalischen Begleitung durch das Karlsfelder Zupfquintett, das die Texte auf wohltuende Art zum Nachklingen bringt. Obwohl es keine Pause gibt, halten Vorleser und Quintett die Spannung im Publikum bis zum Ende aufrecht.

© SZ vom 17.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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