Dachau:"Wir haben eine Verpflichtung zur Hilfe"

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Shraga Milstein will die Menschen über den Nationalsozialismus aufklären, solange er Zuhörer findet. (Foto: Toni Heigl)

Holocaust-Überlebender Shraga Milstein spannt mit Abiturienten den Bogen von der Vergangenheit zur aktuellen Politik

Von Sebastian Jannasch, Dachau

Über viele Jahre seines Berufslebens hat Shraga Milstein als Lehrer gearbeitet, vor der Klasse gestanden, erklärt und zugehört. Und doch fiel es dem 82-Jährigen schwer, am vergangenen Montagvormittag vor die Abiturienten des Ignaz-Taschner-Gymnasiums (ITG) zu treten. Denn nicht Mathe oder Physik standen auf dem Stundenplan, sondern ein Gespräch über seine grausamen Erfahrungen als jüdischer Junge während der Nazi-Diktatur. "Über diese schmerzhafte Zeit rede ich nicht sehr gern, aber es ist wichtig, denn die Jüngeren müssen die Lehren daraus ziehen", erklärt der Holocaust-Überlebende, der 1933 in Polen geboren wurde.

Ihm gegenüber sitzen in fünf Reihen 40 Abiturienten, die beklommen und konzentriert Milsteins Schilderungen lauschen, dessen Leben abrupt aus den Angeln gehoben wurde, als er sechs Jahre alt war. Zu diesem Zeitpunkt besetzten die Nazis Polen und errichteten in Milsteins Heimatstadt Piotrków Trybunalski ein jüdisches Ghetto. "Von einem Moment auf den anderen waren wir eingesperrt und ausgeliefert", erzählt er mit ruhiger, fester Stimme. Zuvor gehörte die Familie zur Mittelschicht, der Vater war Geschäftsmann, Milsteins Einschulung stand bevor. Später wurden sie getrennt. Er, sein Vater und Bruder wurden ins KZ Buchenwald deportiert. Hunger und Todesangst wurden zu Alltagsbegleitern. Bedrückt hören die Schüler von dem Augenblick als Shraga Milstein seinen Vater das letzte Mal sah. "Eines Abends sagte er mir, ich solle gut auf meinen Bruder aufpassen. Schließlich war ich drei Jahre älter als er." Noch in derselben Nacht wurde sein Vater erschossen. Milstein hat die Hände ineinandergelegt, die Beine verschränkt, während er von den schrecklichen Erinnerungen berichtet. Er spricht größtenteils auf Englisch, streut aber immer wieder deutsche Wörter wie "Häftlinge" und "Unmensch" ein. Formulierungen, die sich in sein Gedächtnis gebrannt haben. "KZ-Deutsch" nennt er seine Sprachkenntnisse. "Wenn man die Anweisungen der Aufseher in den Lagern nicht verstand, bekam man gleich eine übergezogen. Da lernt man schnell."

"Natürlich haben wir den Nationalsozialismus sehr ausführlich im Unterricht behandelt", erzählt der 18-jährige Abiturient Bastian Brummer. Es mache aber einen Unterschied, ob man die Geschehnisse aus dem Lehrbuch oder von einem Betroffenen erfahre. Geschichtslehrerin Hedi Bäuml, die das Gespräch mitorganisiert hat, ergänzt: "Die Gelegenheit mit Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen, werden wir nicht mehr lange haben." Dennoch bleibt das Treffen mit Shraga Milstein kein einseitiger Vortrag. Stattdessen entwickelt sich ein Dialog, der den Bogen spannt von den Nazi-Verbrechen der Vergangenheit bis hin zu den derzeitigen Konflikten im Nahen Osten. Die Anspannung der Schüler löst sich, je näher die Gesprächsthemen an die Gegenwart heranrücken. "Ich finde es gut, dass der Zeitzeuge auch zur aktuellen Politik Stellung bezogen hat", meint Zwölftklässler Matthias Schneider.

So interessiert die Schüler zum Beispiel, welches Bild Israelis heute von Deutschen haben. "Viele aus meiner israelischen Heimatstadt nördlich von Tel Aviv nehmen Deutsch-Kurse am Goethe-Institut. Natürlich gibt es aber auch Menschen, die Deutschland kritisch sehen." Dann dreht Milstein den Spieß um und will von den Gymnasiasten wissen, was sie über Israel denken. "Mir fällt der andauernde Krieg ein, in dem sich das Land befindet", antwortet ein Schüler spontan. Auch die Flüchtlingsströme bewegen die Schüler. Schließlich grenzt Syrien an Israel. Ein Schüler erkundigte sich, ob Flüchtlinge deshalb in großen Zahlen in Israel Schutz suchen. "Wir sind in der Region nicht beliebt. Deutschland ist da attraktiver", kommentiert Milstein.

Allerdings kennt auch er das Gefühl, durch eine existenzielle Bedrohung aus der Heimat vertrieben zu werden und auf Hilfe Fremder angewiesen zu sein. Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen im April 1945, in das Milstein durch einen kraftraubenden Fußmarsch gelangt war, kam der Zwölfjährige zunächst nach Schweden. Beide Eltern waren tot. "Wir haben eine Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen", ist der Holocaust-Überlebende überzeugt. Er selbst zog 1948 zu Verwandten nach Israel.

Milstein ist dankbar für das Leben, das er nach der Befreiung führen konnte. Er studierte, arbeitete als Pädagoge, Bürgermeister und Leiter des Holocaust-Instituts Massuah in Israel. Er hat drei Kinder und 16 Enkel. "Die tiefsitzende Angst aus der Kindheit sucht mich manchmal noch in den Träumen heim. Aber ich weiß, dass wir nun in einer anderen Welt leben. Ich bin optimistisch", erklärt er lächelnd. Nur seinen Glauben habe er durch die Zeit im KZ verloren. "Ich bin kein sehr religiöser Mensch." Mit seinen Schilderungen aus der Nazi-Diktatur möchte er dazu beitragen, derartige Gräueltaten in Zukunft zu verhindern. Er will es so lange machen, wie er Zuhörer findet.

© SZ vom 11.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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