Zeitzeugin in Dachau:"Wer Angst hat, kommt in der Angst um"

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Strauß´ Tochter Irene hat die Maxime "Überleben verpflichtet" übernommen. (Foto: Toni Heigl)

Die Künstlerin Irene Hallmann-Strauß spricht das erste Mal öffentlich über ihre Kindheit in Berlin während der Naziherrschaft

Von Jeannette Oholi, Dachau

Es hat viele Jahre gedauert, bis Irene Hallmann-Strauß öffentlich über ihre Familie und ihre Erlebnisse im Nazi-Deutschland sprechen konnte. "Man braucht eine gewisse Reife, um mit nötigem Abstand darüber zu reden. Mit 80 hat man diese Reife", sagt die Künstlerin. Bei einem Zeitzeugengespräch im Kloster Karmel Heilig Blut an der KZ-Gedenkstätte Dachau erzählte Irene Hallmann-Strauß, Jahrgang 1933, nun von ihrer Kindheit als Tochter eines jüdischen Vaters und einer evangelischen Mutter.

Walter Strauß, ihr Vater, nimmt im Zeitzeugengespräch einen großen Platz ein. Er stammt aus einer jüdischen Familie, konvertierte in den Dreißigerjahren jedoch zum evangelischen Christentum. Hallmann-Strauß beschreibt ihn als einen beeindruckenden Mann, der zusammen mit seiner Frau, einer Deutsch-Baltin, die Sorgen und Ängste während den Kriegsjahren von den Kindern fern zu halten versuchte. Walter Strauß war der Sohn des berühmten Mediziners Hermann Strauß, der lange Jahre am Jüdischen Krankenhaus Berlin tätig war. Auch heute noch nennt Irene Hallmann-Strauß ihren Großvater liebevoll "Opapa". Hermann Strauß wurde zusammen mit seiner Frau Elsa ins Ghetto Theresienstadt verschleppt, wo beide umkamen. Bevor Irene Hallmann-Strauß geboren wurde, war ihr Vater dabei, Karriere als Jurist zu machen. Er promovierte und arbeitete bereits mit 28 Jahren im Reichswirtschaftsministerium. Nach der Erlassung des sogenannten Arierparagrafen wurde er mit nur 33 Jahren zwangspensioniert. All das war Irene Hallmann-Strauß als Kind jedoch dank der liebevollen Eltern nicht bewusst. Sie wuchs in einem Haus im Berliner Stadtteil Wannsee auf und erinnert sich heute noch gerne an Spiele mit ihrem Bruder im Garten. Auch dass der Vater sich immer wieder vor der SS verstecken musste, empfand sie als Kind mehr als ein "Abenteuer". Dank guter Verbindungen zur Polizei in Wannsee, wurde die Familie immer gewarnt, wenn die SS Walter Strauß abholen kommen wollte. Trotz der drohenden Gefahr, versteckte die Familie andere Verfolgte in ihrem Haus, manchen verhalf sie zur Flucht.

Walter Strauß hat mit Hilfsnetzwerken kooperiert und unterhielt Kontakt zu den Widerstandskreisen um Klaus und Dietrich Bonhoeffer. "Wer Angst hat, kommt in der Angst um", habe der Vater immer gesagt. Von Nationalsozialismus und Bedrängung habe sie in den Dreißigerjahren nichts gespürt, sagt Hallmann-Strauß. Erst in den Vierzigerjahren sei ihr klar geworden, dass "etwas nicht stimmt". 1939 kam sie zur Schule, musste sie jedoch nach nur zwei Jahren wieder verlassen. Ein russischer Hauslehrer, der Lehrverbot hatte, unterrichtete die Kinder heimlich: "Unser Lehrer hat Kopf und Kragen riskiert, um uns zu unterrichten. Dafür bin ich ihm sehr dankbar", sagt Hallmann-Strauß. Die vierköpfige Familie überlebte die Kriegsjahre. Viele andere Familienmitglieder wurden verschleppt und ermordet.

Nach Kriegsende kam ein Neubeginn. Von alten Studienkollegen wurde Walter Strauß "in den Westen gerufen", arbeitete im parlamentarischen Rat und arbeitete am Grundgesetz mit. Außerdem baute er das spätere Wirtschaftsministerium mit auf, lehnte das Ministeramt im Justizministerium jedoch ab, weil er weiterhin an der Formulierung von Gesetzen mitarbeiten wollte. Irene Hallmann-Strauß besuchte ein Internat im bayerischen Schondorf und studierte danach. Heute lebt sie als Bildhauerin und Malerin bei München. Einige Gemälde wie "Über allem weht der Sommerwind" widmete die Künstlerin dem Gedenken an die NS-Opfer. "Überleben verpflichtet" war nicht nur die Philosophie ihres Vaters, sondern sie ist auch ihre eigene. Das Thema Erinnerung habe sie in ihr künstlerisches Schaffen aufgenommen, als die ersten Neonazis in Deutschland wieder auftauchten. "Ich habe mir den Schmerz von der Seele gearbeitet." Ihre politische Haltung, sowohl in ihrem künstlerischen als auch in ihrem privaten Leben, kommt an diesem Abend immer wieder zum Ausdruck. "Hass entsteht aus Angst, einander nicht zu kennen. Europa ist die Zukunft für uns. Da kann man auch als Künstlerin etwas dazu beitragen."

© SZ vom 01.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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