Dachau:Unser tägliches Nachtbrot

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Nicole Schön ist seit 17 Jahren Bäckerin mit Leib und Seele. Ihre Spezialität sind Holzofenbrote, sie probiert aber auch immer wieder Neues aus. Dass sie dafür jede Nacht um halb zwei aufstehen muss, kann sie nicht schrecken

Von Yulia Gelis, Dachau

Schrill klingelt der kleine Reisewecker. Es ist 1.24 Uhr. Draußen ist es stockdunkel, kalt und ungemütlich. Während die meisten Menschen nach dem beendeten Tag friedlich unter den warmen Decken schlummern, macht sich Nicole Schön auf den Weg zur Arbeit. Gut fünf Minuten radelt die 31-Jährige jeden Morgen, genauer gesagt jede Nacht, durch die Straßen Dachaus. "Meine Arbeitszeiten gefallen mir sehr", sagt die junge Frau lächelnd. "Die Straßen sind leer. Es ist nichts los in der Stadt. Ist viel angenehmer zum Fahren als am Tage."

Nicole Schön ist Bäckerin. Seit dem Beginn ihrer Lehre 1998 bei der "Bäckerei-Konditorei Denk" ist sie mit Herz und Seele in dieses traditionsreiche Handwerk hineingewachsen. Der Lehre zur Bäckerin folgte die zweijährige Lehre zur Konditorin, danach eine Ausbildung zur Bäckermeisterin und Betriebswirtin. Bei Denk konnte sie das Gelernte praktisch umsetzen, an ihrem handwerklichen Geschick feilen und es perfektionieren. Heute führt sie den Betrieb ihres Lehrmeisters und ist für rund 30 Mitarbeiter verantwortlich.

Die Backstube ist hell beleuchtet. Die großen Fenster an der Frontseite zeigen zur Straße, so können die Passanten zu jeder Tages- und Nachtzeit hineinschauen. Drinnen ist es warm und gemütlich. Es riecht leicht säuerlich - nach Hefe. Der 19-jährige Johannes ist auch schon da und schiebt die ersten Bleche mit Rosinenschnecken und Hörnchen in den Ofen. Er ist Geselle im zweiten Jahr. Seine Lehre hat auch er bei "Denk" gemacht. Aber irgendwann wird Johannes die Bäckerei seiner Eltern im Dachauer Hinterland übernehmen. Dort kennt er sich aus, er wuchs zwischen Mehl, Teig und Broten auf. "Zum Lernen geht man am besten woanders hin", sagt der schlanke Bursche, während er die Brezeln mit Kürbiskernen bestreut. "Ich würde aber gerne weiterhin hier bleiben", gesteht er verlegen.

"Ich liebe Teig. Und ich liebe Brot!" Nicole Schön hat ihren Traumberuf gefunden - auch wenn der einige Zumutungen bereithält. (Foto: Toni Heigl)

Aus dem Radio tönt Musik. Schön schiebt eine Rührschüssel groß wie ein Kinderplanschbecken vor sich her. Geschwind holt sie Teigportionen heraus, wiegt sie an der alten Waage mit farbigen Gewichten ab. "Die Waage ist kein Eyecatcher, sie wird bei uns jeden Tag genutzt", sagt sie und lacht. Nun verknetet Nicole Schön den portionierten Teig. Schnell verarbeitet sie gleichzeitig zwei Teile, einen mit der rechten, einen mit der linken Hand und formt sie zu runden und länglichen Broten. Nicole ist Bayerns schnellste Bäckerin 2010. Der Gewinn im Wettbewerb ermöglichte ihr die Ausbildung zur Bäckermeisterin und Betriebswirtin des Handwerks und gab ihr die Chance auf eine eigene Karriere. So kam es, dass die gebürtige Dachauerin mit 29 Jahren als eine "Außenstehende" das seit mehr als 70 Jahren familiengeführte Unternehmen übernahm.

"Ich kann mich noch daran erinnern, wie Herr Denk mich gefragt hat, ob ich seine Stelle übernehmen mag, da er ja in den Ruhestand gehen möchte. Da hab' ich natürlich nicht lange überlegt", gesteht die junge Frau. Es lief alles wie geschmiert, den Backbetrieb kannte sie von Grund auf. Nur mit der Büroarbeit und dem Personal kam ein neues Aufgabenfeld dazu. "Da musste ich mich erst einmal einarbeiten, aber, wenn man will, kann man alles lernen", sagt Schön. Als Chefin möchte sie den jungen Leuten eine Chance geben, das Handwerk und alles Dazugehörige zu lernen. "Ich biete gern Ausbildungs- und Praktikumsplätze an, damit die Jugendlichen den Beruf kennenlernen. Und wenn es ihnen Spaß macht, können sie jederzeit bei mir anfangen." Während die Meisterin in lebhaftem Bairisch erzählt, wendet sie runde Roggenlaibe in Sonnenblumenkernen. "Nur sind es leider zu wenige Bewerber", fügt sie leiser hinzu.

Bäcker zu sein, ist kein leichter Job: Man muss früh aufstehen, in der Nacht arbeiten, schwer tragen. Nicht jeder kommt damit zurecht. "Ich habe mich schon dran gewöhnt, meine Familie kommt auch damit klar. Und das Wichtigste ist: Es macht mir nach wie vor Spaß", sagt Schön. "Ich liebe Teig. Und ich liebe Brot. Was für ein Genuss ist es, in ein frisch gebackenes Holzofenbrot reinzubeißen, am besten mit Kerndln und knuspriger Kruste!" Sie ordnet die rohen Brote auf dem Blech und weist mit dem Kopf auf den Holzbackofen an der Wand, der 2012 extra hinzugebaut wurde. "Holzofenbrote sind unsere Spezialität. Die Sauerteigbrote, die schon seit Jahrzehnten nach demselben Rezept gebacken werden, gehören natürlich zu unserem Stammsortiment, aber wir probieren immer wieder auch was Neues aus." Seit einer Reise nach Hamburg backt Schön auch in Dachau die typisch nordischen süßen Franzbrötchen mit Zimt. Trends will sie aber nicht hinterherjagen. Kalorienreduziertes Eiweißbrot aus fertiger Backmischung kommt bei ihr nicht in den Ofen. "Wir backen selber!"

Bäckergeselle Johannes Lechner beim Brezenmachen. (Foto: Toni Heigl)

Die Chefin und der Geselle verstehen sich ohne Worte und arbeiten Hand in Hand: Im Akkordtempo bepinseln sie Brotlaibe mit Wasser, schneiden diese in der Mitte an oder stechen Muster hinein. Zu zweit schieben sie lange Bleche mit ein paar Dutzend Sauerteigbroten in den Ofen. Jede Bewegung sitzt. Johannes holt die frisch gebackenen Rosinen- und Nussschnecken, Aprikosen- und Kirschtaschen heraus. Süßer Duft verbreitet sich im Raum. Es ist Zeit für den Arbeitsbeginn von Michelle und Isabel. Mit weißen Hütchen auf dem Kopf und in ordentlich gebügelten Schürzen machen sich die Konditorinnen ans Glasieren des warmen, süßen Gebäcks. Nach nur wenigen Minuten glänzen die Schnecken und Kirschtaschen und verführen zum Anbeißen. "Ist nicht so meins", sagt Michelle, "ich esse lieber eine Wurstsemmel". "Und ich knabbere lieber eine Karotte", behauptet Isabel.

Chefin Nicole Schön bringt Nachschub. Ihre langen blonden Haare sind unter einem Käppi versteckt, durch das weiße T-Shirt leuchtet ein Tattoo hindurch. Rasch fügt sie dem Teig eine ordentliche Portion Butter hinzu. Blitzschnell dreht ein riesiger Knethacken in der Rührschüssel seine Runden. Nach einigen Augenblicken holt Schön den Riesenklotz Teig heraus und teilt ihn auf: für Semmeln und Baguette. Die Bäckerin drückt den Knopf neben einem verglasten Fließband und plötzlich kommt die mehrspurige Semmelstraße in Bewegung, blaue Lichter leuchten auf. Die Semmeln entstehen. Durch das Glas links auf der Vorderseite kann man beobachten, wie die Semmeln das gewohnte Sternmuster bekommen, während sie ihren Weg in der "Straße" zurücklegen.

Geselle Johannes backt derweil Käsesemmeln. Mit ein paar leichten Bewegungen rollt er den Teig auf runden Platten aus. Eine wie ein Mini-Kühlschrank aus den Fünfzigerjahren aussehende Maschine mit abgerundeten Kanten und geschwungener Retroaufschrift "Fortuna Automat" portioniert den Käseteig.

Schrill klingelt der Timer am Herd. Die ersten Brote sind fertig! Aus dem Ofen quillt eine Dampfwolke heraus, ein satter, würziger Geruch erfüllt die ganze Backstube. Ein zufriedenes Lächeln erhellt die Gesichter. Draußen geht langsam die Sonne auf, es wird heller und wärmer. In wenigen Minuten öffnet das Geschäft und die ersten, frischen Semmeln gehen über die Theke.

© SZ vom 12.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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