Dachau:Rückkehr mit 86 Jahren

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Witold Scibak streut in seine Leidensgeschichte Humorvolles ein. (Foto: Toni Heigl)

Witold Scibak überlebte als Junge mehrere Konzentrationslager. In Dachau erzählt er das erste Mal davon

Von Manuel Kronenberg

Dachau"Bitte verzeihen Sie. Ich bin etwas aufgeregt", sagt Witold Scibak. Er sitzt im Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte und blickt in die gespannten Gesichter von 80 Zuhörern. Sie alle sind gekommen, um seine Geschichte zu erfahren. Eigentlich ist es für den 86-jährigen Polen nichts Besonderes, vor vielen Menschen zu sprechen. Er war sein Leben lang an der Technischen Universität Warschau tätig. Doch diese Situation ist neu. Es geht nicht um wissenschaftliche Theorien. Es geht um ihn, um seine Vergangenheit. Und viel wichtiger: Es ist das erste Mal, dass er zurückkehrt und vor einem Publikum von seinen Erlebnissen berichtet.

Scibak hat Aufenthalte in mehreren Konzentrationslagern überlebt. Nach seiner Befreiung und der Rückkehr nach Polen wollte er alles vergessen. Vor wenigen Monaten erst kam er wieder mit diesem dunklen Kapitel seiner Vergangenheit in Berührung. Durch Zufall traf er die Zeitgeschichtsforscherin Anna Andlauer, die ihn prompt überredete, für ein Zeitzeugengespräch mit ihr nach Dachau zu kommen.

Die Nervosität ist ihm in keiner Weise anzumerken. Mit roter Krawatte und in beigefarbenem Anzug sitzt Scibak ruhig auf seinem Stuhl und richtet seinen Blick unentwegt ins Publikum. Er erzählt auf Polnisch, seiner Muttersprache. Seine Worte werden übersetzt.

Die Erzählung beginnt mit dem 1. August 1944. Der Tag, an dem sich die polnische Heimatarmee im Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzungstruppen erhob. Der Widerstand war aussichtslos und forderte viele Opfer. Zahlreiche Aufständische und Zivilisten wurden in Gefangenschaft genommen, darunter auch der damals 15-jährige Scibak und seine Familie. Sie wurden zusammen mit anderen Gefangen in Viehwaggons gequetscht und deportiert. Niemand wusste, wohin die Fahrt sie führen würde. Bald wurde die Familie getrennt. Scibaks Mutter und Schwester wurden in das KZ Ravensbrück gebracht, er selbst und sein Vater landeten in Sachsenhausen in Oranienburg. "Der Weg durch diese Stadt war für mich das schlimmste Erlebnis", sagt Scibak. Sie seien als Banditen beschimpft, bespuckt und mit Steinen beworfen worden. "Seit wann bist du ein Bandit, Papa?", habe er gefragt. Der junge Scibak verstand damals überhaupt nicht, was vor sich ging. Schlimme Erinnerungen wie diese spart Scibak beim Erzählen nicht aus. Er erinnert sich erstaunlich gut und schildert seine Erlebnisse mit vielen Details.

Während der Zeitzeuge berichtet, zeigt Andlauer Fotos. Als ein Familienbild aus Scibaks Kindheit auf der Leinwand erscheint, sagt er: "Das ist mein Lieblingsfoto." Auf der Aufnahme hält der Vater die Hand des kleinen Witold. "Mein Vater war sehr streng, aber immer gerecht", sagt Scibak. "Meine Mutter hatte ein goldenes Herz. Und meine Schwester, die war einfach nur ein eingebildetes Mädchen." Die Besucher lachen. Scibak macht immer wieder solche scherzhaften Bemerkungen und lockert die Stimmung auf, kehrt dann aber wieder zum bedrückenden Teil der Geschichte zurück.

Im KZ Sachsenhausen angekommen, musste Scibak zuallererst in die Schreibstube. Dort wurden ihm die Haare abgeschnitten, seine Klamotten und jegliche Wertsachen wurden ihm abgenommen und er bekam einen Häftlingsanzug. "Von diesem Moment an war ich kein Mensch mehr", sagt Scibak. "Ich war nur noch eine Nummer." 95 233. "An diese Nummer erinnere ich mich genau." Scibak wiederholt sie einige Male, auf Deutsch.

Am schlimmsten an der Gefangenschaft empfand der Pole die Bestrafung von Häftlingen auf dem Appellplatz. Vor allen anderen wurden sie mit Ledergürteln nackt auf einer Holzvorrichtung festgebunden und geschlagen. Scibak wurde immer schwächer. Seinen Tiefpunkt hatte er im Lager Bergen-Belsen. Dorthin wurde er verlegt, als das KZ Sachsenhausen aufgelöst wurde, weil die Ostfront näher kam. "Bergen-Belsen war ein Todeslager", sagt er. Es gab kein Essen und keine Möglichkeit zu schlafen. Auf dem Appellplatz häuften sich die Leichen, stündlich kamen neue hinzu. "Ich dachte ich würde nicht überleben. Also wollte ich mich umbringen", berichtet Scibak. "Ich wollte mich einfach auf den Stacheldraht werfen oder versuchen, dem Zaun so nahe zu kommen, dass ich erschossen werde."

Doch er bekam wieder Hoffnung, als ein SS-Mann eines Morgens eine Selektion durchführte und alle Gefangenen darauf überprüfte, ob sie arbeiten konnten. Die meisten waren nicht mehr imstande zu laufen, doch Scibak war noch arbeitsfähig. Er kam in eines der Augsburger Außenlager des KZ Dachau und musste für die Firma Messerschmitt Zwangsarbeit leisten, bis er schließlich von den Amerikanern befreit wurde. "Man muss sich das mal aus der Sicht der Amerikaner vorstellen", sagt Scibak. "Unzählige Skelette kamen auf sie zugerannt und wollten sie einfach nur umarmen. Die Amerikaner haben geweint, als sie uns gesehen haben."

Scibak wurde in einem Kinderzentrum im Kloster Indersdorf aufgenommen, wo er schließlich erfuhr, dass seine ganze Familie überlebt hatte. Im Sommer des Jahres 1946 kehrte er nach Warschau zu ihr zurück.

© SZ vom 25.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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