Dachau:"Köpfe haben Vorrang"

Lesezeit: 5 min

In der Nachtschicht der Radiologie im Amperklinikum prüft Mostafa Haghani fast ohne Pause Computer-Aufnahmen von Patienten aus ganz Deutschland

Von Walter Gierlich

- Christina Grosse blickt konzentriert auf den Bildschirm, betrachtet die Aufnahme der Hand und kann Entwarnung geben: "Keine Fraktur". Es handelt sich um ein Röntgenbild eines Patienten aus der Notaufnahme des Dachauer Klinikums. Dann läutet das Telefon, sie drückt einen Knopf. Dadurch bestätigt sie, dass die E-Mail mit Aufnahmen der Computer-Tomografie (CT) aus dem Krankenhaus in Nördlingen im Befundungsraum der Radiologie in Dachau angekommen sind. Es ist kurz vor 21 Uhr, der letzte Befund für die Oberärztin Grosse in ihrer Schicht, die um 12 Uhr begonnen hat. Sie entdeckt die Ursache der Beschwerden des Patienten aus Nördlingen: eine Blinddarmentzündung. "Jetzt wird dort operiert", sagt sie, während sie ihre Sachen zusammenpackt. "Hoffentlich wird es eine ruhige Nacht", sagt Christina Grosse, denn sie hat "Hintergrund", eine Art Rufbereitschaft, falls es irgendwelche Komplikationen gibt.

Mittlerweile ist Mostafa Haghani eingetroffen, der an diesem Freitag die Nachtschicht hat. Sie dauert von 21 Uhr bis 8 Uhr am nächsten Morgen. Haghani sitzt nun als einziger vor den vier Bildschirmen im Befundungsraum der Radiologie, welche die Nacht über in Betrieb sind. Die übrigen Monitore in dem lang gestreckten Raum im Erdgeschoss des Klinikums sind nur tagsüber eingeschaltet. Und sie werden gebraucht: Denn die 13 Radiologen des Teams von Chefarzt Matthias Matzko kümmern sich nicht nur um die Patienten im Dachauer Krankenhaus. Rund 30 Kliniken in ganz Deutschland werden von hier aus mitbedient. Dort werden die CT-Aufnahmen gemacht, die von den Fachärzten in Dachau ausgewertet werden.

Doch bevor sich Haghani hinsetzt, holt er aus dem Nebenraum Tücher, die mit Desinfektionsmitteln angefeuchtet sind und säubert Keyboards und Telefone. Wegen der Keime. "Vielleicht kostet es drei Minuten, aber es ist sicher", sagt er. Er habe sich das in Karlsruhe angewöhnt. "Ich bin Perser, wir haben eine besondere Tradition der Gastfreundschaft", erklärt der 39 Jahre alte Haghani, als er dem Besucher eine Flasche Wasser und eine Tafel Schokolade gibt und sich entschuldigt, dass er nicht mit mehr dienen könne. Er kommt aus der iranischen Stadt Isfahan, in der er auch studiert hat. Dort hatte er auch eine Arztpraxis, ehe er 2006 nach Karlsruhe kam, um eine Facharztausbildung zu machen. Seit 10. Mai 2011 - das Datum weiß er ganz genau- arbeitet Haghani am Klinikum Dachau. Er ist seitdem Assistenzarzt, seit 1. Juli vorigen Jahres "mit Funktion Oberarzt", wie er sagt. Wenn er die Facharztprüfung hinter sich hat, will er eigentlich nach Kanada, wo ein Großteil seiner Familie lebt. Doch vielleicht bleibt er auch in Deutschland: "Nach vier, fünf Jahren ist das eigentlich schon Heimat geworden."

25 bis 30 Befunde, die zu erstellen sind, das sei in etwa der Durchschnitt in einer Nacht, sagt Haghani, doch es werden auch schon mal deutlich mehr. Kurz vor Weihnachten, am 22. Dezember, einem Samstag, musste er gleich 53 Computer-Tomografien auswerten und die Befunde an die behandelnden Kliniken zurückschicken. Doch auch in dieser Nacht ist einiges los. Kurz hintereinander kommen zwei "Bäuche" - Medizinersprache -, doch Haghani stellt sie zurück, sie müssen warten. Denn aus Landsberg am Lech kommt ein Kopf, ein über 80 Jahre alter Patient mit Wortfindungsstörungen, wie der behandelnde Klinikarzt schreibt: "Köpfe haben Vorrang", sagt der Radiologe. Köpfe und Wirbelsäulen. Bei einem Schlaganfall oder einer Gehirnblutung geht es um Leben und Tod, da zählt jede Minute. Auch bei einer Fraktur der Wirbelsäule muss es schnell gehen, weil eine Querschnittslähmung droht. Deswegen betont der diensthabende Arzt der Nachtschicht, was wichtig ist bei dieser Arbeit: "Geschwindigkeit, Sorgfalt und absolute Konzentration."

Haghani schaut sehr konzentriert auf die CT-Aufnahmen des Gehirns: "Auf den ersten Blick sehe ich Gott sei Dank kein Blut." Doch der Patient hatte einen Schlaganfall, wie der Experte aus der für einen Laien absolut rätselhaften Abbildung herauslesen kann. Das teilt er den Medizinern in Landsberg mit. Er hat auch einen alten Hirninfarkt entdeckt, den der alte Mann vor mindestens einem Jahr gehabt hat. Weil es meist eilt, hat er eine ganze Reihe fertiger Textbausteine im Computer gespeichert, die er abrufen und dem jeweiligen Fall rasch anpassen kann. Der Patient werde wohl in die Intensivstation kommen und dort konservativ behandelt werden, das heißt wahrscheinlich mit Blutverdünnungsmitteln. Doch was genau gemacht wird, weiß Haghani nicht. Er kennt die Patienten nicht, bekommt sie nicht persönlich zu Gesicht - weder vor noch nach der Diagnose.

Nun wendet sich Haghani den beiden Bäuchen zu: Bei dem ersten, der aus Neustadt in Holstein geschickt wurde, klickt er sich durch den Körper: "Leber okay, Milz okay, Darm in Ordnung." Dann bleibt der Blick auf der Harnblase hängen: Verdacht auf Tumor. Eine genaue Klärung müssen die behandelnden Mediziner mit Hilfe von Gewebeproben vornehmen. "Hier muss nicht sofort operiert werden", erklärt Haghani. "Die Frau kann man heute vielleicht sogar nach Hause schicken." Krampfartige Schmerzen habe die andere Patientin seit dem Nachmittag, doch lässt sich nichts entdecken. Der Radiologe fordert telefonisch weitere Aufnahmen aus anderer Perspektive an. "Wenn man nichts findet, kostet das noch mehr Zeit", sagt er. Denn die Aufnahmen muss er sich in solchen Fällen wieder und wieder anschauen, ob er nicht doch etwas übersehen hat.

Genau dieses Prozedere wird bei einem anderen Bauch notwendig, der allerdings von einer Wirbelsäule aus Bayreuth überholt wird: Keine Fraktur, sondern ein Bandscheibenvorfall. Verdacht auf Perforation eines Gefäßes im Bauchraum, schreibt der Arzt aus Bad Segeberg (Schleswig-Holstein). Doch Haghani entdeckt weder Blut noch sogenannte freie Luft. Stattdessen fällt ihm an der Frau, die nach den Bildern zu schließen, ziemlich korpulent sein muss, ein kleiner Lufteinschluss im Fettgewebe auf. Eine kleine Stichwunde vielleicht? Eineinhalb Zentimeter in der wesentlich dickeren Fettschicht am Bauch. Er ruft den behandelnden Mediziner in Bad Segeberg an. Da müsse er sofort nachschauen, sagt dieser und bedankt sich. Wieder ein Fall abgehakt.

Während dieser Bauchuntersuchung kommen drei neue Anfragen herein, darunter wieder ein Kopf. Eine Blutung im Gehirn des 85-jährigen Patienten aus der Klinik in Lichtenstein findet Mostafa Haghani nicht. Doch er macht eine verdächtige Stelle aus, eine Entzündung möglicherweise. "Dann muss sofort operiert werden", sagt er. Während der Radiologe sich die nächste Anfrage auf den Schirm holt, kommt aus dem Röntgenraum nebenan Katrin Mergl. Sie hat ebenfalls Nachtschicht, macht Röntgenbilder und CT-Aufnahmen von Patienten, die in Dachau in der Notaufnahme oder der Ambulanz gelandet sind. Sie ruft den Arzt Haghani, weil eine Patientin einen heftigen Juckreiz verspürt, nachdem sie das Kontrastmittel geschluckt hat. Er läuft hinaus, bleibt einige Minuten weg. Als er zurück kommt, wirkt er erleichtert: "Zum Glück keine allergische Reaktion. Die könnte gefährlich sein." Während der Mediziner draußen war, sind weitere Anfragen eingegangen, die nun nach und nach abgearbeitet werden. Bilder eines Kopfes, der Mann ist gestürzt. Haghani fordert per Telefon weitere Aufnahmen an, um eine Fraktur der Schädeldecke ausschließen zu können. Auch bei einem Bauch aus Pasing braucht er eine zusätzliche Perspektive. Derweil kommt ein weiterer Kopf herein, ein Bauch, eine Wirbelsäule, ein Bauch. Mittlerweile ist es Mitternacht geworden, und Haghani hat in seiner Nachtschicht in nur drei Stunden schon 16 Befunde erstellt.

© SZ vom 12.01.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: