Dachau:Katastrophale Verhältnisse

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Pflegekritiker Claus Fussek geißelt die Situation in deutschen Heimen und nimmt das Führungspersonal in die Pflicht

Von Manuel Kronenberg

PetershausenEs ist ein leichtes Spiel für Claus Fussek. Im türkisfarbenen Karohemd steht er im kleinen Saal des katholischen Pfarramts in Petershausen und widmet sich seinem Lieblingsthema. Ihm gegenüber sitzen etwa 30 Besucher, die meisten von ihnen sind Senioren. Auch Bürgermeister Marcel Fath (FW) ist gekommen. Die Stimmung ist locker, es gibt Kaffee und Kuchen, und alle lauschen gespannt Fusseks Vortrag, der den Titel "Weniger Menschenrechte für Senioren?" trägt. Der Pflegekritiker redet frei und erzählt viele Anekdoten. Er wird sehr emotional, wenn er über die Situation in den Seniorenheimen Deutschlands spricht, die in seinen Augen katastrophal ist. Er erzählt von Alten, die nichts mehr trinken wollen, weil sie alleine nicht auf die Toilette gehen können - die Pfleger sind zu überfordert, um ihnen zu helfen. Oder von einer alten Dame, die unter großer Scham die grobe Intimpflege durch einem männlichen Pfleger ertragen muss.

"Da muss doch die Politik mal handeln!", empört sich eine ältere Frau. Stimmt nicht, sagt Fussek. Nicht die Politik sei schuld. "Der Fisch stinkt ja bekanntlich immer vom Kopf her. Alles hängt von der Heimleitung ab." Seine Botschaft: Wenn die Heimleiter für eine gute Atmosphäre unter den Bewohnern und bei den Pflegern sorgen, löse das schon viele Probleme.

Da schaltet sich Bürgermeister Fath ein: "Ich muss kurz etwas loswerden. Beim Zuhören kam nämlich ein leichter Groll in mir hoch." Er stimmt Fussek zu und betont, wie wichtig es sei, gut miteinander umzugehen und Solidarität zu zeigen. In der Kinderbetreuung sei es genau das Gleiche, auch hier hänge alles von den Leitern ab. Fussek appelliert an den Bürgermeister, in der Gemeinde Menschenrechte für Senioren zu gewährleisten: "Von jetzt an sollen in Petershausen alle Alten in Würde aufs Klo gehen können und frische Luft bekommen." Zu den Menschenrechten gehöre auch, dass jeder dann essen, trinken und ins Bett gehen kann, wenn er möchte, und nicht zu starr vorgegebenen Zeiten.

Fath hört sich den emotionsgeladenen Vortrag mit Interesse an. Direkt betrifft das Thema die Gemeinde Petershausen aber eigentlich nicht. Hier gibt es nämlich gar keine Seniorenheime, zumindest noch nicht. Und eine Prognose der Bertelsmann-Stiftung sagt für Petershausen zwar eine Zunahme der hochbetagten Bewohner bis zum Jahr 2030 voraus, von derzeit 200 auf 360 über 80-Jährige. In Karlsfeld steigt diese Zahl jedoch deutlich stärker an. Dort wird sie sich voraussichtlich mehr als verdoppeln, von 1180 auf 2550 über 80-Jährige. In keiner anderen Gemeinde des Landkreises wird die Anzahl der Hochbetagten so stark ansteigen. Nur in Dachau gibt es noch mehr Alte als in Karlsfeld. Dass die Zahl in Karlsfeld und Dachau so hoch ist, liegt auch daran, dass es dort jeweils drei Heime gibt und viele Alte aus den umliegenden Orten dorthin umziehen. In Petershausen wird derzeit ein Pflegeheim gebaut. Es soll 2016 eröffnet werden und ist auf die Betreuung Demenzkranker ausgerichtet. Im ganzen Landkreis gibt es 13 Alten- und Pflegeheime. Für den Bedarf im Landkreis ist das ausreichend. Etwa 40 Prozent der Heimplätze werden mit Menschen aus München und anderen Städten belegt. Im Durchschnitt beträgt das Eintrittsalter der Bewohner 86 Jahre, die Verweildauer etwa 16 Monate. Die Qualität der Heime beurteilt Wolfgang Gartenlöhner, der zuständige Leiter für Seniorenangelegenheiten am Landratsamt, als insgesamt ordentlich: "Manchmal gibt es zwar Probleme, aber die meisten Pfleger machen eine gute Arbeit." Wenn manche Heime Mängel aufweisen, liege das vor allem am Führungspersonal. Hier stimmt Gartenlöhner mit Fussek überein. Ein funktionierendes Heim muss laut Fussek nicht nur eine kompetente Heimleitung haben, sondern auch Pflegekräfte, die ihren Job machen. Das heiße vor allem, richtig zu dokumentieren. In der Realität werde viel zu oft eine Vollverpflegung verbucht, auch wenn die Bewohner nicht gegessen oder getrunken haben. "Die Hälfte aller Pflegekräfte haben den falschen Job", sagt Fussek.

Eine Frau aus dem Publikum meldet sich. Sie stellt sich als ehemalige Pflegerin vor. "Ich musste meinen Job irgendwann aufgeben." Sie sei von ihren Kollegen gemieden worden, weil sie ihren Job ernst genommen habe und zum Beispiel eine falsche Dokumentation verweigerte. Fussek pflichtet ihr bei: Mobbing unter Kollegen sei ein weit verbreitetes Problem. Das führe dazu, dass die guten Pfleger gehen. Fussek drückt der Dame aus dem Publikum gleich seine Visitenkarte in die Hand: "Wäre schön, wenn wir in Kontakt bleiben."

Gegen Ende seines Vortrags wird Fussek noch einmal emotional. Seine Stimme wird dünn, als er sich darüber beschwert, dass die Missstände anscheinend niemanden interessieren. "Wissen Sie, was ich so schlimm daran finde: Niemand empört sich!"

© SZ vom 08.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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