Dachau:Die Gestik der Traumatisierten

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Das Erlebte zeigt sich auch an der Körpersprache: Psychoanalytiker Kurt Grünberg bei seinem Vortrag im Besucherzentrum der Gedenkstätte. (Foto: Niels Jørgensen)

Psychoanalytiker Kurt Grünberg über die Körpersprache von KZ-Überlebenden

Von Renate Zauscher, Dachau

Die Folgen von Verfolgung und KZ-Haft endeten für die Überlebenden des NS-Terrors weder bei ihrer Befreiung 1945 noch enden sie in aller Regel mit deren Tod: Was die Opfer der NS-Verbrechen erlitten haben, geben sie an Kinder, Enkel, sogar Urenkel weiter - auch durch ihre Körpersprache. Zu dieser Überzeugung ist Kurt Grünberg, Psychologe, Psychoanalytiker und Verfasser zahlreicher Publikationen, durch seine jahrzehntelange Arbeit mit Opfern der Shoah und deren Angehörigen gekommen.

Grünberg sprach im Besucherzentrum der Gedenkstätte Dachau über diese Arbeit und die Ergebnisse seiner Forschung. Er ist seit 1990 Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main; acht Jahre lang war er wissenschaftlicher Leiter des dortigen Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrums. Darüber hinaus ist er Gründungsmitglied des "Treffpunkts für Überlebende der Shoah" in Frankfurt und in einer eigenen Praxis als Psychoanalytiker tätig.

Im Zentrum von Kurt Grünbergs Arbeit steht das Konzept des "szenischen Erinnerns". Extreme Traumata könnten wegen der Ungeheuerlichkeit des Erlebten oft nicht verbalisiert werden. Sie würden stattdessen non-verbal an die nächsten Generationen weitergegeben. "Es gibt eine Sprache, die immer gesprochen wird: die Körpersprache", sagt Grünberg. Ob über Mimik, Gestik oder die Tonlage der Stimme: Die Nachkommen der Opfer hätten diese Sprache immer verstanden. Was mit dem "szenischen Erinnern" seines im vergangenen Jahr abgeschlossenen Forschungsprojekts gemeint ist, erläuterte Grünberg anhand eines konkreten Beispiels. In einem kurzen Video erlebten die Zuhörer die Schilderung eines alten Mannes von der Ankunft an der Rampe in Auschwitz und dem spontanen Erkennen, dass die Schwachen und Abgemagerten, die nackt aus dem Bad getrieben wurden, auf direktem Weg ins Krematorium gingen. Stehend, gestikulierend erzählt der Mann von diesen Eindrücken. Stehend: dies ist das Schlüsselwort. Stehend nämlich, am Appellplatz, oder später, auf dem Todesmarsch, unter unmenschlichen Zuständen eingepfercht in einen Eisenbahnwaggon, hat der Mann überlebt. Wäre er zu Boden gegangen, wäre das sein Ende gewesen. Stehen wurde zur Überlebensstrategie.

Zwei Dinge zeigt Grünberg mit diesem Beispiel auf: Zum einen, dass das Erlebte "eine Wunde ist, die niemals heilt", und dass der Prozess des Erinnerns etwas durchaus Körperliches ist, das durch einen Anstoß von außen - einen Satz, eine Stimme, eine plötzliche Assoziation - in Gang gesetzt wird. Grünberg: "Im szenischen Erinnern bricht die Vergangenheit auf". Noch etwas konnte der Psychoanalytiker anhand des Beispiels konkretisieren: Wie sich die Erfahrung traumatischer Erlebnisse auf andere - in diesem Fall ihn selbst - übertragen kann. Die durchlittenen Katastrophen im Leben des Mannes hat Grünberg mehrfach durch eigene körperliche Symptome und über Fantasien wahrgenommen.

Andrea Riedle, die stellvertretend für Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann in den Abend eingeführt hatte, moderierte die lebhafte Diskussion, die sich an Grünbergs Vortrag anschloss. Gefragt wurde, ob die Forschungsergebnisse von Grünberg und seinem Team auf andere Länder übertragbar seien, was dieser insofern verneinte, als er persönlich nicht an einer "Megastudie" interessiert gewesen sei. "Das wäre eine Riesenuntersuchung gewesen, die auf Kosten der Tiefe gegangen wäre." Bestätigt wurden Grünbergs Erfahrungen mit NS-Opfern und ihren Angehörigen durch die Schilderung einer Frau im Publikum, die von der geradezu besessenen Suche ihres Sohns zum Schicksal des jüdischen Großvaters berichtete.

Zuletzt sprach Grünberg über die eigene Familie. Den Vater, einen Viehhändler, der die Shoah als 20-Jähriger überlebt hatte und dessen eigenwilligen Humor. Dabei machte Grünberg noch einmal deutlich, um was es ihm in seiner Arbeit geht. Orientiert an Viktor Frankl und dessen Buch "Trotzdem Ja zum Leben sagen" versuche er, "die Perspektive des Lebens einzunehmen". Zwar bräuchten die Überlebenden der Shoah Kinder und Enkel sehr oft, "um die Last mitzutragen", doch gerade deshalb sei es wichtig, "sich zu individualisieren" und ein eigenes Leben zu entwickeln anstelle eines "Ersatzlebens für die Ermordeten".

© SZ vom 19.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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