Dachau:Bewegender Verfall

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Ein holländischer Autor beschreibt in seinem Buch "Bis es wieder hell ist" den geistigen Verfall aus der Perspektive eines Demenzkranken. Der Schauspieler Gerd Anthoff macht daraus eine bewegende Lesung.

Anna Schultes

Maarten Klein steht am Fenster. Er wartet auf die Schulkinder, die in ihrer feuerroten, kobaltblauen und eigelben Kleidung auf dem Weg zum Bus sind. Der 71-Jährige wundert sich - die Kinder tauchen in der verschneiten Winterlandschaft nicht auf, und seine Frau Vera serviert am Morgen den Nachmittagstee. "Maarten, heute ist Sonntag", sagt sie. Ja, es ist Sonntag, kurz nach 15 Uhr.

 Gerd Anthoff bei seiner Lesung im Dachauer Ludwig-Thoma-Haus.  (Foto: npj)

Mit kleinen Aussetzern beginnt die Ge-schichte des an Alzheimer erkrankten Marteen Klein. In seinem Werk "Bis es wieder hell ist" schildert der niederländische Autor Bernlef, bürgerlich Hendrik Jan Marsman, den zunehmenden Verfall aus der Perspektive des Alzheimerkranken selbst. Am vergangenen Freitag las der Theater- und Fernsehschauspieler Gerd Anthoff auf Einladung der Dachauer Stadtbücherei unter dem Titel "Hirngespinste", unter dem das Buch in Deutschland zunächst erschien, aus Bernlefs Roman. Der Musiker Martin Kälberer, der seit 1998 mit dem Fernsehmoderator und Liedermacher Werner Schmidbauer auftritt, begleitete die Lesung im Thoma-Haus auf dem Klavier.

Demenz ist in einer modernen Gesell-schaft, in der die Menschen zunehmend älter werden, ein hochaktuelles Thema. Laut der Deutschen Alzheimer Gesell-schaft leben in Deutschland derzeit etwa 1,2 Millionen Demenzkranke, von denen etwa 60 Prozent von Alzheimer betroffen sind. "Bis es wieder hell ist" erschien 1984 und stellt den Versuch dar, den Verlauf der Krankheit aus der inneren Wahrnehmung eines Patienten heraus zu schildern. Kritiker warfen dem Roman vor, ein Demenzkranker könne seinen Verfall nicht derart klar beschreiben. Doch mangelnde Wissenschaftlichkeit macht die Geschichte des Patienten und der Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung nicht weniger bewegend.

Der Schauspieler Gerd Anthoff gibt Maarten Klein eine Stimme. Die rund 100 Zuhörer genießen seine Art vorzulesen, manche schließen die Augen. Der 65-Jährige liest nicht nur, er spielt. Seine facettenreiche Stimme und seine Gestik drücken die Verzweiflung der Figur aus, wenn der alte Mann selbst nicht versteht, was mit ihm passiert. Wenn die Verzweiflung in Wut umschlägt, wird Anthoff laut, ballt die rechte Hand zur Faust. Je weiter der Verfall des Maarten Klein voranschreitet, desto abgehackter klingen auch die Worte des Schauspielers.

Anthoff wurde 1970 festes Ensemblemitglied am Bayerischen Staatsschauspiel. Im Fernsehen spielte er unter anderem die Titelrolle in der Serie "Joseph Filser - Bilder aus dem Leben eines Bayerischen Abgeordneten" nach Ludwig Thoma und die Figur des Unternehmers Toni Rambold in "Der Bulle von Tölz". Ende September überreichte Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) Anthoff die Medaille "München leuchtet - Den Freunden Münchens" in Gold für seine herausragenden Leistungen als bayerischer Fernseh-, Theater- und Volksschauspieler.

Musikalisch begleitet wird die Lesung von Martin Kälberer am Klavier. Wenn Kälberer einsetzt, lehnt sich Anthoff zurück, schiebt seine Brille zurecht und wendet sich dem Musiker zu. Das Spiel gibt den Zuhörern die Möglichkeit, sich das eben Gehörte, das erschreckend ist, noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Manche nehmen sich auch eine kurze Pause, um sich auf das ausgezeichnete Spiel des Pianisten zu konzentrieren.

Dann taucht man wieder ein die Welt des Maarten Klein. Anfangs rechtfertigt der alte Mann seine Verwirrung, einmal liegt es an der monotonen Schneelandschaft, dann ist es Hund Robert, der die Zeitung in Streifen gerissen haben soll. Bald weiß er nicht mehr, wann Tag und wann Nacht ist, macht sich auf den Weg zur Arbeit, obwohl er bereits in Rente ist. Er erkennt seine eigene Frau nicht mehr, die verzweifelt versucht, mit der Situation zurechtzukommen. Am Ende wird Klein von Sanitätern abgeholt. Der Abend im Thoma-Haus, an dem sich das Klavierspiel Martin Kälberers perfekt in den Vortrag Gerd Anthoffs einfügt, endet mit viel Applaus.

© SZ vom 17.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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