Dachau:Authentische Geschichtsstunde

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Die Fotos stammen aus der Filmdokumentation "Report 45" des BR von 1963 über die Wohnsiedlung auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers. Reproduktionen und Montage: Niels P. Jørgensen (Foto: Niels P. Joergensen)

BR-Journalistin Jutta Neupert zeigt zwei historische Filme über die Wohnsiedlung Dachau-Ost. Im ehemaligen Konzentrationslager waren 15 Jahre Flüchtlinge und Heimatvertriebene untergebracht

Von Walter Gierlich, Dachau

Viele der etwa 150 Besucher im Adolf-Hölzel-Haus sind einst in dem von 1949 bis 1964 bestehenden Wohnlager Dachau-Ost auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers aufgewachsen. Für sie ist es am Mittwochabend ein Rückblick auf die eigene Kindheit und Jugend, als die BR-Journalistin und Filmemacherin Jutta Neupert zwei kurze Dokumentarfilme aus den Jahren 1959 und 1963 über die Siedlung in den früheren KZ-Baracken zeigt. Für die anderen Besucher sind die Filme und vor allem die anschließende Gesprächsrunde eine überaus lebendige Geschichtsstunde über ein Thema, das in Dachau damals und noch heute weitgehend verdrängt ist.

Im April vergangenen Jahres waren die Filme bereits einmal im Bürgertreff Dachau-Ost zu sehen, der damals so überfüllt war, dass viele Interessenten auf einen Wiederholungstermin vertröstet werden mussten. Diesmal nun kommen die ersten Besucher schon eine Dreiviertelstunde vor Beginn, um sich einen Platz zu sichern, obwohl die Veranstaltung in den benachbarten größeren Saal des Adolf-Hölzel-Hauses verlegt ist. "Wohnsiedlung Dachau-Ost ist ihre Adresse, ein Massengrab ihre Nachbarschaft", heißt es im Film "Während wir schlafen" von 1959. Liebevoll angelegte Vorgärten sind zu sehen, Wäsche auf der Leine, gemütlich eingerichtete Wohnungen im Stil der damaligen Zeit. Der Streifen gewährt aber auch Einblicke in Wohnungen mit heruntergekommenen Zimmern voller Schimmel an den Wänden, mit Schränken, aus denen Schmutzwäsche quillt, und Küchen voller Schmutz. Draußen zeigt er Straßen voller Pfützen und eingeschlagene Fensterscheiben. Einige der 1600 Bewohner der Siedlung - Flüchtlinge und Heimatvertriebene - beklagen, dass sie seit zehn Jahren mit ihren Familien dort leben müssten, weil Wohnungen draußen entweder nicht zu finden oder Mieten nicht zu bezahlen seien.

Der zweite Film "Report 45" wurde 1963 zur Einweihung der italienischen Kapelle auf dem Leitenberg gedreht. Italiens damaliger Staatspräsident, der deutsche Bundespräsident Lübke und Bayerns Ministerpräsident Goppel sind dabei, lassen aber das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers links liegen, wo die damaligen Bewohner "auf blutgetränktem Boden leben", wie der Kommentator sagt. Dort erinnert seinerzeit nur eine provisorische Ausstellung im Krematorium, im Film "eher ein Gruselkabinett" genannt, an die Leiden der Häftlinge von 1933 bis 1945. Der Reporter ist empört über eine Wirtschaft mit dem Namen "Heimatstüberl" in einer ehemaligen Häftlingsbaracke und will von Behördenvertretern wissen, wann eine würdige Gedenkstätte errichtet werde (es dauerte bis April 1965) und warum die Stadt Dachau so lange den Bau von Wohnungen außerhalb des Lagers verhindert habe.

Eine Antwort auf letztere Frage gibt der Film nicht, aber mehrere der Besucher benennen in der anschließenden Gesprächsrunde die Ursache ganz klar. "Dachau wollte von uns Flüchtlingen nichts wissen", sagt Franz Pawelka, "das war eine andere Welt, die hatte nichts mit Dachau zu tun." Fast gleichlautend bestätigt Erwin Hartmann, der Vater des jetzigen Oberbürgermeisters, 1945 im Ortsteil Etzenhausen geboren: "Der Stadtbürger wollte mit den Leuten nichts zu tun haben." Er und seine Freunde seien als Kinder aus Neugier ab und zu dorthin geradelt: "Da hat man die Not gesehen." Aber sie hätten damals die Vorurteile der Eltern übernommen, die die Leute dort als asozial betrachtet hätten.

Fritz Königer, der nicht dort gelebt, aber in den Fünfzigerjahren Harmonium für Pater Leonhard Roth in der Lagerkirche spielte, hält zwar die Aussagen in den Filmen für zu schwarz gemalt: "Schlimm war's, aber nicht so trist, wie es da gezeigt wurde." Eine Kollegin habe ihm erzählt, wie wohl sie sich als Kind dort gefühlt habe. Doch auch er sagt klipp und klar: "Für die Dachauer war es ein Ghetto." Auch Christopher Höglmüller kann aus Erzählungen seines Vaters etwas zu dem Zwiespalt zwischen Innen- und Außenperspektive beisteuern: Sein Vater sei als Junglehrer in die Lagerschule versetzt worden und darüber anfangs schockiert gewesen. Rückblickend sage er jedoch, die Jahre dort seien seine schönste Zeit als Lehrer gewesen. "Dort lebten viele traumatisierte Menschen, es gab Schlägereien, es gab Missgunst", versucht der auf dem KZ-Gelände aufgewachsene Dieter Navratil am Schluss das rosige Bild etwas zurechtzurücken.

Wenn solche Veranstaltungen nicht zum hohlen Ritual oder zur reinen Plauderstunde erstarren sollen, ist es notwendig Brücken zum Heute zu schlagen und zu zeigen, warum das Erinnern sinnvoll und notwendig ist. Insofern fand Moderatorin Jutta Neupert einen passenden Abschluss des Abends, als sie an die Besucher appellierte, den Geflüchteten von heute die Hand hinzustrecken und anders mit ihnen umzugehen, als die Dachauer damals mit den Menschen im Wohnlager Dachau-Ost: "Es wäre schön, aus der Geschichte zu lernen."

© SZ vom 27.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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