Beeindruckende Inszenierung:Schaurig schön

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Das Musical "Viorica und die Vampire" taucht in das Ambiente der aufgelassenen Industriebrache auf dem MD-Gelände in Dachau regelrecht ein. Jürgen Rothaug und sein ganzes Ensemble lassen eine Welt des Märchens und der modernen Fantasy-Adaptionen entstehen

Von Petra Neumayer, Dachau

Fast gänzlich ausgebleicht sind die Bilder der "Vertrauensleuteleitung", die wie aus einer anderen Welt gespenstisch aus dem Schaukasten der Papierfabrik glotzen. Wie tiefe Falten ziehen sich die Risse durch den Verputz der toten Mauern. Skelettartig staken rostige Rohre aus ihren Löchern, schlaff baumeln Drähte aus den offenen Wunden des Mauerwerkes, wo sie sich ohnmächtig mit zotteligen Gräsern im Wind wiegen.

Nur für einen Moment scheint alles zu erwachen. An diesem Samstagabend. Weil das Leben zurückgekehrt ist. Mit wunderschöner Musik. Mit klangvollem Gesang und mit fröhlichen Menschen - wenn auch ein Teil von ihnen an diesem Abend selbst als Geister und Untote durch die Halle streifen. Wirklich nicht passender hätte die Umgebung für das Musical des neuen Projektes von Jürgen Rothaug "Viorica und die Vampire" sein können, als in der alten, ehemaligen Papierfabrik. Und kaum beeindruckender in seiner Inszenierung.

Obwohl der passionierte Berufsmusiker und Initiator zahlloser Musikprojekte für seine, trotz Laiendarstellern, sehr professionellen Aufführungen bekannt ist, ist nur etwa ein Drittel der aufgestellten Stuhlreihen bei der Premiere gefüllt. Was allerdings nur daran liegen kann, dass zumindest für Unkundige der Örtlichkeit das Auffinden des richtigen Eingangs nicht ganz einfach ist. An der übrigen Organisation kann es jedenfalls nicht liegen - geschweige denn an der Inszenierung des Musicals. Der Premiere beizuwohnen ist für den Dachauer Landtagsabgeordneten der CSU, Bernhard Seidenath und seine Frau, jedenfalls kein Pflichttermin. Seidenath sagt: "Ich bin immer wieder total begeistert, was Herr Rothaug mit den jungen Künstlern auf die Beine stellt."

Enttäuscht wird der Politiker auch diesmal nicht: Lichttechnik, Ton, Kostüme. Sänger, Instrumentalisten, Schauspieler, Tänzer: Alles ist wohl durchdacht und in einem fünf Jahre lang dauernden Reifeprozess gewachsen. In ihm hat Jürgen Rothaug nicht nur die einzelnen Stücke aus unterschiedlichsten Opern und Filmen zusammengesucht. Er hat zudem die Geschichte drum herum geschrieben. Die Geschichte über den Vampir-Grafen, der nur als Untoter weiterleben darf, wenn er drei Jungfrauen beißt. Allerdings verliebt sich sein Sohn in eine von ihnen, an der anderen hat er kein Interesse. Die Dritte jedoch erlöst ihn schließlich. Denn: Ende gut, alles gut "es soll auf gar keinen Fall Blut fließen", sagt Jürgen Rothaug und lacht seine Freude über die Musik als solche und über seine Musiker und Darsteller im Besonderen frei hinaus.

Die Liebe, mit der auch diese vierte Aufführung in Folge in der Papierfabrik auf die Bühne gebracht wird, ist in jeder kleinsten Sequenz zu spüren. Gefühlvoll fliegen geradezu die Finger von Anna Nam über die Tasten des Pianos. Ein ganzes Orchester ersetzten Fanny Simperl und Laetitia Kausch mit ihren Violinen, Verena Ewald am Violoncello und Michael Burkner am Fagott (Orchester Young People Dachau). Die außergewöhnliche Akustik der Halle tut das Ihre und lässt auch die Stimmen der Solisten weit klingen.

Allen voran Carina Ellerhoff (Viorica), Lena Nauderer (Dorina), Annette Thomas (Roxana), Michael Nauderer (Vater Bogdan), Robert Beckert (Fürst Vlad na Dragos) und Philip Donath (Prinz Miron). Den Letztgenannten und eigentlich abrockenden Leadsänger der Band "Owing to the rain" als verliebten Galan mit Musical-Stimme zu erleben, war selbst für seine Mutter und Künstlerin Sabine Dubitzky-Donath (verantwortlich unter anderem für die Gestaltung der Plakate) "ein Erlebnis!".

Gut einstudiert, professionell vorgetragen ist durchweg alles - und wenn das eine oder andere vielleicht dann doch nicht so direkt nach Drehbuch läuft: Wen interessiert's? Denn die Begeisterung, der Spaß an der Musik, an der Bewegung und an dem Spiel, zählen. Und so ziehen denn unheimliche Wesen der Finsternis (Schüler der Greta-Fischer-Schule) mit ihren scheußlich-schönen Masken durch die Zuschauerreihen - und zum Gesang des geisterhaften Ensembles Cantori auf die Bühne, die sich im nächsten Moment schon mittelalterlich gekleidet auf dem Marktplatz tummeln. Fröhlich und gefühlvoll singen die Solisten Romanzen und Arien, elegant tanzen Vampir-Elfen (Grundschule Dachau-Ost) in Rokoko-Kostümen ein Menuett. Auf dem Balkon taucht der unheimliche Vampirfürst auf, es wird gewarnt und gelacht, sich verliebt, verzweifelt und gefreut. Stets stimmig begleitet werden die einzelnen Szenen von großen Hintergrund-Projektionen, wo Gemälde von Max Mannheimer dem kürzlich verstorbenen Künstler und ehemaligen KZ-Häftling ein weiteres Denkmal setzen.

Die Gruppe "Fanatics" von der Greta-Fischer-Schule in Dachau und die Tanzgruppe der Grundschule in Dachau-Ost, Rothaugs Orchester "Young People" sowie das Ensemble Cantori, seine A-Capella-Spezialeinsatzgruppe, sind Rothaugs ständige Begleiter. Sie waren bei den zwei Holocaust-Gedenkkonzerte "Feuer des Lebens" im Juni 2016 dabei oder ein Jahr früher beim Mozart-Happening, in dem Jürgen Rothaug Musik des Komponisten mit zeitgenössischem Pop vermischte. Vor drei Jahren inszenierte er eine Hommage auf Christoph Willibald Gluck.

Ein ähnliches hat sich Jürgen Rothaug einmal mehr musikalisch erarbeitet. Wobei es ihm gar nicht auf den Erfolg für sich ankommt. Seine Berufung, sein Lebensinhalt ist es vielmehr, jungen Menschen die Liebe zur Musik zu vermitteln. Sie mitzureißen, sie zu begeistern. Für Projekte wie dieses. Und unabhängig welchen Alters, welcher geistigen oder körperlichen Voraussetzungen. "Inklusion" ist für Jürgen Rothaug ein Wort, das er mittels seiner Kunst praktizieren will. "Denn jeder soll Musik erleben dürfen", sagt er, auch glücklich, so viele engagierte Mithelfer zu haben. Noch lange hallt der Applaus an den toten Mauern der Papierfabrik wider, die an diesem Abend zum letzten Mal aus ihrem Schlaf geweckt werden. Was hoffentlich am kommenden Wochenende erneut der Fall sein wird.

Weitere Aufführungen finden am Samstag, 1. Juli, 19 Uhr, und Sonntag, 2. Juli, 17 Uhr auf dem MD-Gelände statt. Der Kartenvorverkauf: Buchhandlung Wittmann, Flair Fashion und die Bäckerei Denk, alle drei Geschäfte befinden sich in Dachau.

© SZ vom 27.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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