Armut in München:Eine Familie vor dem Nichts

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Arm in einer reichen Stadt: Eigentlich geht es München gut, doch jeder fünfte ist arm oder von Armut bedroht. Die Hubers wohnten in einem Haus, hatten ein Pferd, ein gutes Leben. Dann übernahm sich der Mann mit seiner Firma und tauchte ab. Mit einem Schlag standen die Mutter und ihre zwei Töchter vor dem Nichts.

Sven Loerzer

Kein Spiel: Das Leben der Familie Huber ging schlagartig verloren. Seit fünf Jahren bleibt der Mutter und ihren beiden Kindern in etwa nur so viel Geld wie die Sozialhilfe. (Foto: Marco Einfeldt)

Von Berufs wegen hatte sie mit Gold zu tun, und das schien sich nicht schlecht anzulassen. Es verhieß ein Leben auf der Sonnenseite, richtig schön "gutbürgerlich", wie Brigitte Huber erzählt. Mit allem was dazu gehört: Die Familie mit zwei Töchtern konnte sich ein Haus in einem der besseren Viertel Münchens mieten, sich ein großes Auto und Urlaub leisten. Brigitte Huber (Name geändert) arbeitete als Zahntechnikerin im Zahnlabor ihres Mannes mit, das er vor eineinhalb Jahrzehnten mit Hilfe von Krediten eröffnet hatte. Sie zögerte nicht, als die Banken sie aufforderten, für die Kredite zu bürgen. Ein Zahnlabor, das sah nach einer Goldgrube aus. Die Bürgschaft, so hieß es bei der Bank, sei reine Formsache.

Sorgen gab es zunächst nicht, für die 13-jährige Tochter Clara schaffte die Familie sogar ein Pferd an, für die 15-jährige Sabine gab es privaten Ballett- und Klavierunterricht. Ein wenig verwundert war Brigitte Huber zwar schon, als sie Mahnungen von Lieferanten des Labors sah, aber misstrauisch wurde sie noch nicht. Doch weil sich die Zahlungserinnerungen häuften, erkundigte sie sich bei der Steuerkanzlei, die auch die Buchhaltung erledigte. Erst dadurch erfuhr sie, dass ihrem Mann die Insolvenz droht. Wegen Überschuldung.

Diese zieht meist längerfristige oder dauerhafte Armut nach sich. Im noch unveröffentlichten Armutsbericht der Landeshauptstadt sind Berechnungen von Creditreform enthalten, einer Firma, die Bonitätsauskünfte erteilt. Demnach sind in München etwa acht Prozent der Privatpersonen überschuldet, also rund 97.000 Menschen. Oft können sie Konsumentenkredite nicht mehr bedienen, wenn sie arbeitslos werden. Oder ihre Immobilienfinanzierung ist gescheitert. Etwa ein Viertel der Überschuldeten sind ehemals Selbständige, die mit ihrem Unternehmen pleite gegangen sind. Und überdurchschnittlich oft sind Familien mit Kindern betroffen.

"Ich bin aus allen Wolken gefallen, dass wir finanziell am Ende sind", erzählt Brigitte Huber. "Was das alles nach sich ziehen wird, also welche Tragweite das für unser ganzes Leben haben wird, war am Anfang aber noch nicht fassbar für mich." Ihr Mann und sie hätten immer viel gearbeitet, aber im Grunde keine größeren Sorgen gehabt. "Alles ging bis dahin seinen geregelten Gang."

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Doch das Labor lief zuletzt schlecht, die Konkurrenz aus dem Ausland machte sich bemerkbar. Ihr Mann sprach darüber nicht, steckte die Rücklagen ins Geschäft und betäubte sich zunehmend mit Alkohol. Die Katastrophe war nicht mehr zu verhindern, Hubers Mann verließ die Familie und tauchte unter. Bald schon stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür.

"Es war für sie wie ein Erdbeben"

"Es brach einfach nacheinander alles weg", erzählt Huber, die damals Mitte 40 war. Die Sparverträge für die Kinder, Ausbildungs- und Lebensversicherung, alles musste zu Geld gemacht werden. Das Haus musste Brigitte Huber räumen, sie zog mit ihren Töchtern in eine angemietete Zwei-Zimmer-Wohnung. "Das Zerbrechen des häuslichen und sozialen Umfeldes war für mich schon sehr schwierig. Aber für meine beiden Kinder war es noch viel schlimmer. Es war für sie wie ein Erdbeben", erzählt Brigitte Huber.

Diese "Riesenverluste" hätten sie lange nicht verkraftet. "Das Haus war weg, ebenso die Nachbarskinder und dann auch die meisten Schulfreunde." Sie mussten die Schule wechseln, auch die geliebten Hobbys ließen sich nicht mehr finanzieren. "Es war wirklich ein Drama, sie haben fast alles, was ihnen lieb und wichtig war, verloren."

Dass das kein Einzelfall ist, auch das belegt der Armutsbericht. Bei der Schuldnerberatung der Stadt und der Wohlfahrtsverbände sind demnach im vergangenen Jahr 6000 überschuldete Münchner beraten worden, fast ein Drittel davon waren Alleinerziehende und Familien mit minderjährigen Kindern. Das sind fast doppelt so viele, wie nach ihrem Anteil an allen Haushalten in München zu erwarten wären.

Eines der schlimmsten Erlebnisse für Brigitte Huber war die Abgabe des "Offenbarungseids", der eidesstattlichen Versicherung. "Da habe ich gewusst, ich bin ganz unten angekommen", sagt sie. Huber ist auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen. Dennoch gibt sie nicht auf, findet schließlich wieder Beschäftigung, als Bürohilfe. Mit Unterstützung der städtischen Schuldnerberatung geht Huber dann ins Verbraucherinsolvenzverfahren.

Sechs Jahre lang wird dabei der pfändbare Teil ihres Gehalts von einem Treuhänder an die Gläubiger verteilt. Zum Leben bleibt Brigitte Huber in etwa der Betrag, über den Bezieher von Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe verfügen. Fünf der sechs Jahre hat sie inzwischen hinter sich, keine einfache Zeit. Zumal es Huber bedrückt, was bei ihren Kindern alles auf der Strecke blieb. Und obendrein durfte niemand erfahren, warum sie sich so vieles, was Gleichaltrige besitzen, nicht leisten konnten. "Meine Kinder haben sich furchtbar für unsere Situation geschämt."

Um noch mehr überschuldeten Menschen helfen zu können, will das Sozialreferat die Schuldner- und Insolvenzberatung in den nächsten Jahren ausbauen. Denn der Absturz in die Armut ist meist auch mit anderen schwerwiegenden Problemen verbunden. Die schulischen Leistungen der Kinder von Brigitte Huber brachen ein, die psychische Belastung der Krise verschärfte die Konflikte zwischen der Mutter und ihren Töchtern. Die Schuldnerberatung schaltete deshalb auch eine Erziehungsberatungsstelle ein.

"Das hat mir sehr geholfen. Oft habe ich mich bei der Schuldnerberatung erst einmal ausgesprochen über meine Sorgen", sagt Brigitte Huber. "In so einer Situation braucht man jemand, der einem Rückendeckung gibt. Man muss sich einen Ruck geben und Hilfe suchen." Nun ist sie zuversichtlich: "Ein Jahr noch, und dann bin ich schuldenfrei."

© SZ vom 20.10.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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