Archäologie:Aufschlussreiche Latrinenfunde

Lesezeit: 4 min

Archäologisches Kataster soll Stadt und Bauherren Hinweise darauf geben, was im Boden der Altstadt schlummert. Denn es gibt noch viele offene Fragen

Von Martin Bernstein

In der Altstadt warten auch nach der großen Marienhof-Grabung noch Entdeckungen auf Archäologen. Das geht aus dem archäologischen Stadtkataster hervor, das der Regensburger Archäologe Christian Behrer im Auftrag des Planungsreferats federführend erstellt und das in fünf Jahren fertig sein soll. 72 Prozent der Altstadtfläche sind bereits untersucht, im Wesentlichen fehlen noch das Kreuzviertel und Teile des Angerviertels. Grabungsergebnisse, Begehungen und alte Kataster bezieht Behrer in seine Bestandsaufnahme ein. Das Kataster soll Bauherren Hinweise geben, welche Parzellen in der Altstadt ohne weitere Untersuchung bebaut werden können - und wo vor den Baumaschinen erst einmal die Archäologen anrücken müssen.

Spannend könnte es beispielsweise in den Innenhöfen der Alten Akademie werden. Vor eineinhalb Jahren hat René Benkos österreichische Unternehmensgruppe Signa den Renaissance-Komplex erworben. Seitdem ringen Stadt und Signa darum, wie das denkmalgeschützte Ensemble der Renaissance-Architekten Friedrich Sustris und Wendl Dietrich zum modernen Geschäfts-, Büro- und Wohnquartier umgebaut werden kann. Gleich nebenan, im Innenhof der ehemaligen Landesbodenkreditanstalt an der Kapellenstraße, haben Archäologen vor drei Jahren ein ganzes Wohn- und Handwerkerquartier aus dem Mittelalter freigelegt. Es war eine der größten Flächengrabungen in der Münchner Altstadt in den vergangenen zwanzig Jahren - und es war nach Auskunft des Landesamts für Denkmalpflege die mit der höchsten Befunddichte. Notwendig geworden war die Grabung, weil das Erzbischöfliche Ordinariat aus dem im Jahr 2005 gekauften Gebäude einen Verwaltungskomplex machte und unter dem Innenhof eine Tiefgarage anlegte. Die Überreste der mittelalterlichen Häuser verschwanden damit für immer - doch zuvor lieferten sie wertvolle Erkenntnisse zur Stadtgeschichte. Ähnlich die Situation am Marienhof, wo Archäologen im Auftrag der Bahn tätig wurden. Irgendwann soll unter der vom Mittelalter bis zu den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs dicht bebauten Fläche die zweite Stammstrecke verlaufen.

1 / 4
(Foto: Catherina Hess)

Christian Behrer archäologisches Kataster der Altstadt soll Bauherren als Leitfaden dienen, wo Ausgrabungen (hier etwa am Marienhof) notwendig sind.

2 / 4
(Foto: Florian Peljak)

Viel zu entdecken gibt es etwa im Garten des Radspielerhauses an der Hackenstraße 7.

Gefunden wurden bei den Ausgrabungen beispielsweise die Scherben eines Gefäßes sowie Bronzenadeln und -messer, die in einem Grab lagen.

3 / 4
(Foto: BLfD)

Dieser Kinderschuh wurde am Marienhof zutage gefördert.

Vier von 45 000: So viele einzelne Fundstücke wurden am Marienhof hinter dem Rathaus entdeckt.

4 / 4
(Foto: Stephan Rumpf)

Ein Bagger bei Grabungsarbeiten am Marienhof, 2011.

Doktorandin Sandra Schmid gräbt sich derzeit durch 93 Kilogramm Tonscherben aus drei mittelalterlichen Abfallschächten vom Marienhof. Am Ende, wenn auch die Funde aus den Latrinen und dem Stadtgraben untersucht sind, wird es dreimal soviel historisches Material sein. Die wissenschaftliche Stelle der Doktorandin - eine weitere Forschungsarbeit widmet sich der Frage, was die mittelalterlichen Münchner angebaut und gegessen haben - ist Teil einer bayernweit einzigartigen Kooperation zwischen Stadt und Archäologischer Staatssammlung. Die Funde - allein 45 000 stammen vom Marienhof - sollen unter Leitung von Sonja Marzinzik von der Staatssammlung bearbeitet werden, um sie anschließend der Öffentlichkeit zeigen zu können. An dem auf fünf Jahre befristeten Forschungsvertrag zwischen der Stadt München und dem Freistaat Bayern sind das Kulturreferat, das Stadtmuseum, das Stadtarchiv, die Archäologische Staatssammlung, das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege und das Institut für Vor- und Frühgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität beteiligt. Der finanzielle Anteil der Stadt für Personalkosten beträgt jährlich 80 000 Euro. Und wer das Glück hat, einen Blick in Sandra Schmids wissenschaftliches Schatzkästchen werfen zu können, ahnt, dass das gut angelegtes Geld sein könnte: Eine Kinderpuppe findet sich da, mit der vor 600 Jahren ein reiches Münchner Patrizierkind spielen durfte. Ein Topf, dessen Besitzer finanziell wohl eher weniger auf Rosen gebettet war, weswegen das gute Stück sorgfältig geflickt wurde. Ein anderer Topf, unbeschädigt nach mehr als 700 Jahren - und darin die Überreste einer kompletten Altmünchner Mahlzeit.

Dass die Stadtgeschichte nach Auswertung dieser Funde und möglicher weiterer, die bei Ausgrabungen in der Alten Akademie und vielleicht auch im Hof des Stadtmuseums zu Tage gefördert werden könnten, komplett neu geschrieben werden muss, glaubt Christian Behrer nicht. Sie "verdichten eher das Bild", das aus vielen Puzzleteilen besteht. Doch dieses Bild ist spannend genug: München existierte schon 50 oder 100 Jahre vor seiner offiziellen Gründung. In der Salvatorstraße, am Marienhof und an der Hofstatt haben Archäologen Funde aus dieser Zeit gemacht. Die Siedlung "Altheim" haben sie freilich noch immer nicht gefunden - jedenfalls nicht bei den jüngsten Grabungen im Radspielergarten. Behrer vermutet die frühe Siedlungsstelle eher ein paar Meter weiter nördlich im Bereich des Damenstifts. Doch mit jedem Fund, den die Wissenschaftler machen, fördern sie zugleich neue Rätsel zu Tage.

Etwa die bisher unbeantwortete Frage, warum der Münchner Altstadtboden nicht im Lauf der Jahrhunderte nach oben gewachsen ist. Überall anders wurde der Schutt immer wieder planiert, das Straßenniveau stieg dadurch kontinuierlich an. Nicht so in München: Das heutige Straßenniveau ist das des mittelalterlichen Münchens - wer's nicht glaubt, muss sich nur die alte Türschwelle des Weinstadls anschauen. Die "Kulturschicht", die Archäologen Funde liefern kann, ist deshalb in München relativ dünn - etwa zweieinhalb Meter. Wo für Keller und Tiefgaragen tiefer gegraben wurde, sind keine Funde mehr zu erwarten. Außer in alten Latrinen und Brunnen, von denen jede Parzelle zwei haben musste. Und dort kommen dann oft erstaunliche Dinge zum Vorschein: Bayerns ältester Fischkasten etwa, der zurzeit mit großem Aufwand restauriert wird, oder Münchens ältester Schuh, dessen Schuhmacher aus dem 14. Jahrhundert man namentlich identifizieren kann.

Das Fazit des Forschers: "Im Jahr 1158 wurde etwas ins Leben gerufen, was funktioniert hat." München sei bis heute das Ergebnis durchdachter Planung und Nutzung - "eine stabile Stadt", in der unterschiedliche Schichten nahe beieinander wohnten, in der ein "autarker dörflicher Charakter" eine solide Grundlage für höfisches Leben und für weitreichende Handelsbeziehungen gelegt habe. Eine Stadt, deren Bewohner schon früh ein offenes Weltbild kultivieren und ihre Kontakte zum Beispiel nach Italien pflegen konnten. Eine Tonne Obstkerne gruben die Archäologen am Marienhof aus - zumeist einheimisches Obst, aber eben auch Feigen. Bis die Münchner all die Dinge aus ihrer Vergangenheit zu sehen bekommen, wird es noch ein paar Jahre dauern. Aber immerhin: Ziel des Forschungsprojekts ist ausdrücklich die öffentliche Präsentation der Funde. "In drei bis fünf Jahren", sagt Sonja Marzinzik, sei eine erste Vitrinenpräsentation geplant, möglicherweise im Stadtmuseum. Und danach dann eine große Ausstellung. Davon erhofft sich Christian Behrer auch einen Anschubeffekt: Denn nicht nur im Boden der Altstadt schlummern Funde zur Stadtgeschichte, auch in den alten Dorfkernen und in großen Neubaugebieten wie Freiham. Auch dafür seien archäologische Kataster sinnvoll. Und in der Innenstadt, sagt Behrer, könnten Menschen des 21. Jahrhunderts "erleben, was da war". Die Bahn, so seine Anregung, solle sich doch einmal umschauen, wie andernorts - etwa in Wien - archäologische Befunde bei der Gestaltung unterirdischer Stationen genutzt werden. So etwas könnte doch auch unterm Marienhof möglich sein.

© SZ vom 20.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: