Amoklauf in München:Wenn die Stadt den Atem anhält

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Nach dem Amoklauf legen Trauernde Blumen vor dem OEZ nieder. (Foto: dpa)

Seit Freitagabend ist nichts mehr wie zuvor - auch wenn es in manchen Momenten so aussieht: Szenen aus der City, aus Moosach, von großen Veranstaltungen und kleinen Begegnungen.

Von SZ-Autoren

Am Samstagmorgen ist noch überall Beklemmung zu spüren: in der U-Bahn, auf den Plätzen, in den Straßen der Innenstadt. Es sind wenige Menschen unterwegs, sieht man einmal von japanischen Reisegruppen mit ihren Tour-Guides auf dem Max-Joseph-Platz ab. Auf dem Odeonsplatz und in der Ludwigstraße sind die Zelte des Bierfestivals fast alle schon ausgeräumt, nur die nachgebaute Bauernstube der Brauerei aus Freyung-Grafenau steht noch intakt da. Im Organisationsbüro des Festivals, zu dem man am Wochenende eigentlich an die 100 000 Besucher erwartet hatte, liegt auf dem Tisch ein Ordner, auf dem in großen Buchstaben "Sicherheitskonzept" steht. Er wird jetzt nicht mehr gebraucht, ebenso wie die 120 000 Verkostungsgläser, die extra für das Festival hergestellt wurden.

Eine ganz normale Stadt

Kann man am Tag danach überhaupt in die Innenstadt gehen? Ist es nicht komplett seltsam, einfach so irgendwo herumzuspazieren und zu shoppen, wo kaum zwölf Stunden zuvor noch blanke Panik herrschte? Mei, was hilft's, manche Sachen kann man halt nur im Zentrum kaufen. Also auf in die Fußgängerzone. Wenigstens wird man schnell durch sein mit den Einkäufen, denn es wird bestimmt leer sein in der Stadt. . . Wie kann man sich täuschen: Nichts ist anders als an normalen Samstagen. Der Stachus rappelvoll, asiatische Touristen mit Sonnenschirmen, quengelnde Kinder vorm Spielzeugladen, selbst im McDonald's drängen sich die Leute. Beim gut zweistündigen Stadtbummel ist kein einziger Wortfetzen über das Geschehene zu hören, kein Verkäufer spricht einen an, gar nichts. Da, ein einsamer Polizeibus kriecht durch die Kaufinger Straße. Also doch! Oder ist auch das völlig normal?

Oder ist doch alles anders?

Von dieser Nacht lassen wir uns nicht den Samstag vermiesen, sagt die Freundin und zieht - im selben Moment wie man selbst - ein Mitbringsel aus der Tasche. Einfach so. Weil das Leben schön ist. Aber so ganz lassen sich die Ängste der Nacht dann doch nicht verdrängen: Der Fleischverkäufer im Supermarkt im Tal spricht mit seinen Kunden über die Motive des Täters, der Kassierer im Lodenfrey fragt, was nach Würzburg und München noch passieren soll. Auch die Maximilianstraße wirkt leerer als sonst und im kleinen Café im Kustermann, sind fast alle Plätze frei. Vielleicht ist es doch kein Samstag wie jeder andere.

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Bilanz ziehen im Pschorr

Wolfgang Fischer, Geschäftsführer des Vereins City Partner, der Einzelhandel und Gastronomie in der Innenstadt vertritt, zeigt sich zwar "fassungslos und entsetzt" über die Tat. Es sei andererseits aber auch beeindruckend gewesen, "wie die Münchnerinnen und Münchner und die vielen Gäste angesichts der Notsituation zusammenstanden". Am Samstagnachmittag trefen sich einige Innenstadtwirte im Pschorr, um Bilanz zu ziehen. Ihr Sprecher Lorenz Stiftl, meint danach: "Wir nehmen das auch zum Anlass, uns Gedanken zu machen, was wir tun, wenn so etwas noch einmal passiert." Trotz allem ist den Wirten doch eine gewisse Erleichterung darüber anzumerken, dass die Tat vom Olympia-Einkaufszentrum offenbar keinen terroristischen Hintergrund hatte.

Zurück ins OEZ

Eigentlich hätten am Samstag die Cups der Ersten Schachtage im Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) ausgespielt werden sollen. Stattdessen brauchen der Schachgroßmeister Sebastian Siebrecht und sein Team eine Sondererlaubnis, um ihre am Freitagabend zurückgelassenen Sachen abzuholen. Alles erhalten sie nicht zurück, berichtet Siebrecht am Sonntag auf dem Weg zu den nächsten Schachtagen in Ludwigsburg. Den Computer mit den Kinderschachprogrammen, verbliebene Mobiltelefone und einen Koffer mit Schachutensilien habe das LKA eingezogen und zu Untersuchungen mitgenommen. Die Schach-Cups werden im Folgejahr nachgeholt.

"Wir wollen das Leben lieben"

In Sichtweite vom OEZ ist am Samstag die offizielle Kranzniederlegung mit Horst Seehofer und Dieter Reiter schon längst beendet. Doch zwischen Absperrungen und Flatterbändern und Trauernden in Moosach steht eine schlanke, in Schwarz gekleidete Frau. Kameras und Mikrofone sollen aufnehmen, was Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler zu sagen hat. Sie ist bekannt dafür, durchaus mit Energie und kräftiger Stimme Stellung zu nehmen. Doch jetzt geht das kaum. Susanne Breit-Keßler kämpft mit den Tränen. Die Stimme ist brüchig. Die Worte sind trotzdem stark. "Wir wollen das Leben lieben", sagt sie. Und gibt allen einen guten Rat: "Verplempert die Zeit nicht." Sie bringt auch dieses Interview mit Anstand zu Ende. Als die Kameras und Mikrofone weg sind, wischt sie sich Tränen von der Wange.

Mit Kindern in der Kirche

In der Moosacher Sankt-Martins-Kirche steht Pfarrer Martin Cambensy eine Gratwanderung bevor. Einerseits muss er auf die schreckliche Tat eingehen, die sich im Herz seiner Gemeinde ereignet hat. Andererseits besuchen immer viele Familien mit kleinen Kindern Cambensys Sonntagsmessen, diesmal will auch noch ein Dutzend neuer Ministranten in den Kirchendienst aufgenommen werden. Es wird letztlich ein sehr musikalischer Gottesdienst. "Musik hat eine heilende Wirkung", sagt Cambensy später in der Sakristei. "Wenn wir unseren Glauben ernst nehmen, dann geht am Ende alles gut aus für uns."

Und auch die Rechte ist da

Unterdessen kochen am OEZ die Rechtsextremen ihr eigenes Süppchen. Der "Bund Deutscher Patrioten" legt am Wochenende eine eigene Fahne neben die vielen Kerzen und Blumen an der improvisierten Gedenkstätte beim OEZ ab. Dieser Zynismus setzt sich in den sozialen Medien fort, es kommt auch zu vier angemeldeten Veranstaltungen der Extrempartei "Die Rechte".

Momente zum Schämen

Moosach ist internationales Reporterpflaster an diesem Samstag. Die Hanauer Straße, in der die Schreckenstaten passiert sind, ist vollgestellt mit Übertragungswägen, man könnte das Gefühl bekommen, dass hier mehr Journalisten unterwegs sind als andere Menschen. Nicht alle nehmen es dabei mit menschlichem Anstand so genau. Da werden Trauernden, die etwas zu sagen haben könnten, zum Beispiel Scheine gereicht, um Redehemmungen zu lösen. Ein junger Mann, der Bekannte unter den Opfern hat, hat einer Reporterin schon zwei Mal gesagt, dass er nichts sagen möchte, aber sie lässt einfach nicht locker. "Zwei Sätze nur", drängt sie. Es sind Momente zum Fremdschämen.

Dinge, die nicht stimmen

Bei Moosacher Jugendlichen gibt es zwei beliebte Treffpunkte: Der eine ist am OEZ, vorzugsweise vorm McDonald's, der andere am Moosacher Bahnhof. Dort halten Busse, Tram, U- und S-Bahn, es gibt viele Geschäfte und sogar ein Basketballfeld. Eigentlich ist hier immer was los. Aber am Samstag ist es sehr ruhig und leise, die Menschen stehen unter Schock. Vier Opfer sollen aus der Nachbarschaft kommen, sagt eine Ladeninhaberin. Zwei Jungs, etwa 13 Jahre alt, steigen von ihren Fahrrädern, froh, Leute gefunden zu haben, mit denen sie reden können. "Und das alles nur wegen einem Verrückten", sagt der eine und erzählt, dass ihn am Freitag besonders die Berichterstattung gestört habe: "Da zeigen sie im Fernsehen immer wieder diese Bilder und Sachen, die nicht stimmen, und können aber nichts Neues sagen", sagt der eine zum anderen.

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Auch am Sonntag kommen immer noch Menschen in die Hanauer Straße, um Blumen und Kränze niederzulegen. Manche setzen sich danach auf die Stufen, die zum Haupteingang des OEZ hinaufführen, und schauen von dort auf das Blumenmeer, auf den abgesperrten McDonald's, auf die Übertragungswägen. Vielen steht dabei Ungläubigkeit ins Gesicht geschrieben, als könnten sie immer noch nicht fassen, was hier passiert ist. Andere bleiben auf der Straße und machen Fotos, telefonieren. Ein Mann erzählt eine sehr eigene Version des Geschehens. Anteilnahme und Sensationstourismus liegen nahe beieinander.

Tausend Wurstsemmeln

Lorenz Stiftl, Wirt des Spöckmeier am Marienplatz, bleibt zumindest beim abgesagten Bierfest nicht auf allen Investitionen sitzen. "Am späten Abend kam die Anfrage, ob wir für die Bereitschaftspolizei 1000 Wurstsemmeln liefern könnten. Dann haben wir halt Semmeln geschmiert."

Hauptsache: keine Panik

Musiker haben vor Auftritten ihre Rituale. Der Gitarrist stimmt seine Gitarre, der Sänger macht Stimmübungen, der Drummer nimmt einen Schluck aus der Bierflasche. An diesem Abend aber starren die Musiker, die hinter der Bühne auf den Auftritt beim Stadt-Land-Rock-Festival warten, auf ihre Smartphones. Es ist Freitagabend kurz nach 19 Uhr. Erste Gerüchte über einen Anschlag machen auf dem Tollwood-Gelände ihre Runden, die Nachrichtenlage ist unklar, Angehörige und Freunde sind in Sorge. Manche Musiker versuchen ihre Eltern zu beruhigen, andere springen von einer Nachrichtenseite zu der nächsten - bis das Internet zusammenbricht. Und das Telefonnetz. Auf der Bühne in der tanzbar spielt die Band SweetLemon ihr Konzert. Sie weiß nichts von der Schießerei im OEZ, das Konzert brechen die Veranstalter erst später ab. Wichtig ist ihnen: Es soll keine Panik ausbrechen.

Aus für die Riesengaudi

Die Veranstaltungsabsagen häufen sich übers Wochenende. Der Sommernachtstraum wird gecancelt, das "Oben-Ohne"-Festival am Königsplatz auch. Das fränkische Weinfest im Alten Hof wird für Samstag abgesagt. Am Sonntag, dem geplanten letzten Tag, findet es auf Beschluss der Belegschaft wieder statt. An der Fahne, die in der Dienerstraße auf das Lokal hinweist, hängt ein schwarzer Trauerflor. Auch Veranstaltungen in den Stadtvierteln sind betroffen. Die große Bühne mitten auf der Wiesentfelser Straße steht schon, Biertische und Bänke sind aufgestellt, Essens- und Getränke-Stände aufgebaut. Dann wird auf Bitte von OB Reiter das für Samstag von langer Hand geplante Stadtteilfest Neuaubing-Westkreuz um elf Uhr abgeblasen. Als am Nachmittag die ersten Gäste eintreffen, wundern sie sich, dass die Straße nicht gesperrt ist und die Biertische fein säuberlich aufgestapelt auf dem Gehweg stehen. "Ich hab' gedacht, hier wär' a Riesengaudi", sagt ein Passant.

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Eine nasse Demonstration für ein Isarschwimmbad in der Stadt sollte das am Sonntagnachmittag werden - die Verantwortlichen des Vereins "Isarlust" entscheiden sich am Sonntagmorgen dann doch für ein "Isargedenken". Den 170 gemeldeten Schwimmerinnen und Schwimmern wird abgesagt, stattdessen lassen etwa 30 Isar-Freunde von einer Sandbank an der Braunauer Brücke 30 weiße Rosen still ins Wasser. Zum Gedenken an die Opfer des Amoklaufs. "Da kannst du nicht fröhliches Isarschwimmen machen, wenn ein kranker junger Mann einen Amoklauf begeht", sagt Isarlust-Mitglied Andreas Keck. Das sieht die Friedhofsgärtnerei an der Ungererstraße auch so und beteiligt sich am Sonntagmorgen spontan an der Aktion: Die Rosen fürs Isargedenken gibt's gratis.

Nächster Versuch fürs Schwimmen: Freitag, 29. Juli. Manche Wirte denken nun anders über Dinge, die sie früher geärgert haben. "Ich werde in Zukunft sicher nicht mehr maulen", sagt einer der beiden Wirte des Hofbräuhauses, Wolfgang Sperger, "wenn die Behörde das nächste Mal wieder sagt, wo wir überall Platz für Fluchtwege freihalten sollen." Am Freitag laufen schreiende Menschen ins Hofbräuhaus, sie rufen: "Da draußen schießen sie!", worauf unter den gut 1500 Gästen Panik ausbricht. Gäste werfen sich auf den Boden und suchen Schutz unter Tischen, eine Gruppe von Engländern schlägt mit Masskrügen Fenster ein. Andere flüchten durch den Hinterausgang und überrennen einen Kellner. Am Tag nach dem Amoklauf öffnet das Hofbräuhaus erst gegen Mittag, die Musik wird für Samstag abbestellt.

"Hier ist keiner in Feierlaune", sagt Sperger. Wenn keine U-Bahnen und Busse mehr fahren, Züge umgeleitet werden und alle Taxis auf Stunden belegt sind, dann stehen plötzlich viele Menschen auf der Straße. Und das in einer Situation, in der jeder sichere viere Wände sucht. Viele Münchner haben darauf reagiert, indem sie über den Twitter-Hashtag #offenetür spontan Fremden einen Platz zum Schlafen angeboten haben. Ganz analog hat eine Schulklasse des Johannes-Kepler-Gymnasiums in Reutlingen am Abend eine Bleibe gefunden. Karl-Martin Nagl will am Freitagabend gerade die St.-Elisabeth-Kirche in Haidhausen zusperren, als die Schülergruppe hereinkommt. "Sie waren voller Unruhe, denn sie haben mitbekommen, was gerade in München passiert", berichtet Pfarrer Pater Alfons Friedrich am Sonntag. Auch viele Gaststätten und Kneipen, aber auch Kaufhäuser geben in der Amoknacht aufgeregten Passanten Unterschlupf.

Sich dem Dunkel stellen

Übrig geblieben vom Festival der Bierbrauer ist am Sonntag nur noch der Festgottesdienst, auch der Umzug von 29 Brauereigespannen durch die Altstadt entfällt. Den Gottesdienst aber halten drei Äbte und ein Pater aus den Klöstern Weltenburg, Andechs, Scheyern und Ettal, die alle eigene Klosterbrauereien haben. Aber das ist an diesem Sonntagvormittag im Alten Peter kein Thema mehr. "Ein frohes Fest sollte beginnen", sagt Abt Thomas Maria Freihart vom Kloster Weltenburg, "dann fielen Schüsse." Den Gottesdienst wolle man aber trotzdem nicht absagen, denn die Kirche sei auch ein Ort, an dem man mit seiner Trauer ankommen könne. Die Predigt nimmt schließlich Bezug "auf Würzburg, Nizza und Orlando sowie auf die Geschehnisse in der Türkei". Es gelte immer noch das Wort von Kardinal Julius Döpfner: "Erst wenn wir uns dem Dunkel stellen, wird uns das Licht geschenkt."

© SZ vom 25.07.2016 / angu, anna, bov, eda, fjk, lod, maxi, mbr, nas, soy - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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