70 Jahre Spiegel:Der "Spiegel" war immer ein Kind seiner Zeit

Volker Lilienthal

Volker Lilienthal, 57, ist Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für Praxis des Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg.

(Foto: picture alliance / dpa)

Der Nimbus des "Spiegels" hat in 70 Jahren manchmal gelitten, doch es gibt Anzeichen für eine Repolitisierung.

Gastbeitrag von Volker Lilienthal

Wenn man dieser Tage den ersten Jahrgang des Spiegels zur Hand nimmt, den von 1947, stößt man in mancher Artikelüberschrift gleich auf das, was das nun 70 Jahre alte Magazin noch heute in seinen besten Momenten ausmacht, aber deutlich seltener geworden ist. Bissig-humorige Formulierungen, die politische Wertungen auf den Punkt bringen: "Heim ins Frankreich" etwa, "Kriegsverbrecherprozess auf Polstern", "Sex Appeal wie ein Pelikan" oder "Die Partei, die noch gefehlt hat" (das war damals die Deutsche Reichspartei, nicht die AfD). Die Titel zeigen aber auch, dass der Spiegel es mit der Trennung von Nachricht und Kommentar nie genau genommen hat - obwohl er sich doch im Untertitel selbstbewusst über Jahrzehnte "Das deutsche Nachrichtenmagazin" nannte, ein Slogan, der irgendwann heimlich gestrichen wurde. Nein, Spiegel-Storys waren immer süffisant geschrieben und von Werturteilen durchtränkt, von starken Protagonisten geprägt und sogar von Action, nicht nur im szenischen Einstieg. Daran ist zu erinnern, wenn heute viel vom Epischen im Journalismus die Rede ist, von Narrativen und Storytelling. Als sei dergleichen erst jüngst erfunden worden.

Nein, der Spiegel war damit Pionier in Deutschland und seiner Zeit um sieben Jahrzehnte voraus. Seine Macher, angetrieben von dem damals erst 23-jährigen Rudolf Augstein, wussten, dass man kritische Information mit einem Schuss Entertainment besser verkaufen kann. Das ist legitim und gilt in der heutigen unterhaltungsfixierten Medienumwelt umso mehr. Das Publikum aber ist kritischer geworden. Viele Leser reagieren ablehnend, wenn ihnen schon die Überschrift wie ein fetter Gesinnungsstempel anzeigt, was man von einer Sache zu halten habe.

Der "Spiegel" war stets von Wertungslust getrieben, manche sagen von Abwertungssucht

Das geht nur, wenn der Artikel selbst seine Schlagzeile beglaubigt, wenn er sie nachträglich herleitet aus recherchierten Tatsachen. Dies gilt umso mehr, als wir seit Kurzem im "postfaktischen Zeitalter" zu leben scheinen. Dagegen beweist aufklärerischer Journalismus in der mühevollen Kleinarbeit der Puzzles, die er seinem Publikum regelmäßig zur Meinungsbildung anbietet, dass es immer noch die Wirklichkeit gibt - Fakten und Tendenzen in einer realen Umwelt, auf die im Interesse der eigenen Lebensbewältigung zu achten ist.

Trotz seiner Wertungslust, manche sagen auch: Abwertungssucht gegenüber politischen Autoritäten, hat der Spiegel immer auch das Handwerk des Recherchierens hochgehalten - und damit eingelöst, was oben gefordert wurde. Die großen Beispiele wie "Bedingt abwehrbereit", Flick-Affäre und Neue-Heimat-Skandal werden in diesen Tagen immer wieder bemüht. Dabei wird so getan, als gebe es dergleichen heute gar nicht mehr. Kann sein, dass der Spiegel in jüngerer Zeit weniger Reporterglück hatte, dass Enthüllungen aus Hamburg seltener wurden.

Doch eine Trendwende lässt sich erahnen. Als ich als wohl 15-Jähriger anfing, mir allwöchentlich die Spiegel-Hefte beim Großvater abzuholen, hatten die Exemplare einen krummgelesenen Rücken: Zeichen eines eifrigen Lesers, aber auch der Tatsache, dass die Ausgaben damals dank vieler Anzeigen deutlich dicker waren - 200, wohl bis an die 300 Seiten. Auf den Titelseiten prangten Typen wie Brandt, Strauß, Wehner und Honecker. War der Spiegel damals politischer? So nehmen heute viele an.

Doch unser Gedächtnis ist bei solchen Pauschalisierungen nur eine mutmaßende Rekonstruktion. Auch für die jüngere Zeit, bei 52 Heften im Jahr, ist unsere Erinnerung trügerisch.

Fürs achte Jahrzehnt braucht es ganz bestimmt ein neues Engagement in der Redaktion

Der Spiegel war immer auch Kind seiner Zeit, manchmal auch bloß Opfer des Zeitgeistes. In den 1980er-Jahren zeigte er sich grün inspiriert und machte in Alarmismus: Das Waldsterben kommt! Aber wer weiß: Vielleicht erzwang er (zusammen mit anderen publizistischen und politischen Kräften) damit eine neue Umweltpolitik, die dafür sorgte, dass nicht eintrat, was befürchtet wurde. Insgesamt lässt sich doch, bei aller Kritik im Einzelfall, festhalten, dass der Spiegel mit beigetragen hat zur Modernisierung der Bundesrepublik, zur Rationalisierung ihrer Institutionen und zur Liberalisierung der Lebensverhältnisse. Das ist ihm, aber auch anderen Medien zu danken.

Der Nimbus des Spiegels - recherchestark und kritikfreudig zu sein - hat längst abgefärbt auf andere Medien. Damit verlor zwar das Hamburger Nachrichtenmagazin (warum nicht den alten Untertitel wiederbeleben?) etwas von seiner Alleinstellung. Als Staatsbürger aber hatten wir alle einen Vorteil davon.

All das scheint nun in Gefahr zu sein: Modernität und Weltoffenheit, Rationalität und Toleranz gegenüber dem Andersdenkenden. Umso mehr braucht es mutige Medien, die am Projekt Aufklärung, am Prinzip der Zivilität festhalten. Der Spiegel hat in den vergangenen drei bis vier Jahren häufig eine starke Haltung gezeigt: mit der Forderung nach "Asyl für Snowden!" (2013), "Der Staat Erdoğan" (schon 2014), dem Brexit-kritischen Appell "Bitte geht nicht!" im Jahr 2016 (auch dieser teils zweisprachig wie der Türkei-Titel von 2014). Es bleibt aber ein Wagnis, wenige Tage nach dem MH17-Abschuss im Juli 2014 die Schlagzeile "Stoppt Putin jetzt!" zu wählen und sich damit auf einen Hauptverantwortlichen festzulegen. Die Anzeichen einer Repolitisierung des Nachrichtenmagazins bleiben also vorerst ambivalent.

"Uns geht's ja noch gold" - dieser Kempowski-Satz gilt auch für den Spiegel seit Langem nicht mehr. Auch er hat Auflage und Anzeigen verloren, jüngst wurden sogar betriebsbedingten Kündigungen ausgesprochen. Die Print-Online-Integration steht seit Langem im Prospekt, vieles bleibt zu tun.

Was es fürs achte Jahrzehnt ganz bestimmt braucht, ist neues Engagement in einer Redaktion, die in ihrem institutionellen und persönlichen Wohlstand auch die Schattenseiten des Saturierten kennengelernt hat: deren Elitenorientierung vor allem, bis man kaum noch etwas weiß vom Leben einfacher Menschen. Diese Entfremdung wird von manchem Populisten beklagt, und teils zu Recht. Es ist den cleveren Hamburgern aber durchaus zuzutrauen, dass sie die Zeichen der Zeit längst erkannt haben und langsam aufwachen.

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