Filmkritik:Bea war fleißig

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"Die Ideologie brauche ich, um die Leere zu füllen": Julia Koschitz als DDR-Spionin Bea Kanter in Unsichtbare Jahre. (Foto: WDR/Stephanie Kulbach)

"Unsichtbare Jahre" ist kein gewöhnlicher Agentenfilm. Fast kammerspielartig porträtiert der Film eine Spionin, wie es sie vielleicht wirklich gibt, irgendwo.

Von Renate Meinhof

Nein, dies ist nicht der dreiunddreißigste Agentenfilm mit wilden Autojagden, vorgetäuschter Liebe, mit Erpressung und erfundenen Lebensläufen. Es ist der Blick in das Innenleben einer jungen Frau, die der Zuschauer von 1974 an sechzehn Jahre lang begleitet. Es ist ein Porträt. Und auch wenn es eine Bea Kanter mit dieser Geschichte wohl nie gegeben hat, so könnte es sie doch gegeben haben. Dass man in fast jeder dieser Filmminuten sogar sicher ist, Bea Kanter müsse es geben, womöglich noch in irgendeiner Haftanstalt, und ihr Leben habe sich genauso zugetragen, spricht für Hannah Hollingers kluges Drehbuch und spricht vor allem für die Kunst von Julia Koschitz, die die Hauptrolle spielt.

Beas Vater, ein Mittelständler und CDU-Mann (Friedrich von Thun), setzt all seine Hoffnung auf die älteste Tochter, der jüngeren traut er eine angemessene Karriere ohnehin nicht zu. Die Mutter ist tot. Noch in ihrer Sterbestunde hatte der Vater sie betrogen. Seine Töchter bestrafen ihn dafür. Vor allem aber grenzen sie sich ab. Bea wendet sich als Studentin der linken Szene in Frankfurt zu und beginnt bald, für ein Land zu schwärmen, das sie nicht kennt, dessen Alltag sie auch nie kennenlernen wird, selbst wenn sie - um im Stasi-Jargon zu bleiben - als "Kundschafterin des Friedens" in seine Dienste tritt und deshalb regelmäßig nach Ostberlin reist. Sie wird Spionin, steigt als Diplomatin im Auswärtigen Amt auf und verhilft der DDR zu geheimen Informationen. Sie verrät ihr Land, wie es ganz am Schluss der Beamte sagt, als er klingelt, um sie zu verhaften.

Den Sozialismus findet sie vor allem deshalb gut, weil es genügend Krippenplätze gibt

Doch was treibt Bea Kanter, Spionin für die DDR zu werden? Die politischen Motive nimmt man der Figur nur ganz am Anfang ab, denn das Kämpferische der Studentin verflüchtigt sich schnell, ihre "Kundschafter-Arbeit" wird zum Selbstzweck. So sitzt sie ihrem Führungskader gegenüber und sagt: "Die Ideologie brauche ich, um die Leere zu füllen. Ihr seid meine Rettung."

Sie muss also gar nicht erpresst, nicht gezwungen werden, die Staatsgeheimnisse der BRD nach Ostberlin zu melden, sie tut es, weil sie endlich irgendwo andocken, weil sie sich zu irgendetwas zugehörig fühlen will, und sei es zu einem Sozialismus, den sie vor allem deshalb für gut befindet, weil es genügend Krippenplätze für die Kinder Alleinerziehender gibt.

Fleißig arbeitet diese Bea Kanter, und nur einmal unterläuft ihr ein Fehler. Sie lässt ihre Jacke mit dem gefälschten Pass in der Westberliner S-Bahn liegen. Ein skeptisch gewordener Polizist schickt ihn zum Bundesnachrichtendienst nach Pullach. Und hier gibt es plötzlich einen merkwürdigen, dramaturgischen Bruch. Warum, denkt man, wird Bea Kanter dann erst nach der Wende enttarnt, wenn der BND ihr doch längst auf der Spur ist?

Der Film Unsichtbare Jahre ist insofern ein Wagnis, als dass er sich Stille erlaubt, Langsamkeit, das Ausleuchten der Psyche einer unsicheren, einsamen Frau.

Koschitz spielt sie durchscheinend, unverstellt, so dass man am Ende nur Mitleid mit ihr haben kann. Trotz des politischen Themas ist Unsichtbare Jahre ein unpolitischer, manchmal fast kammerspielartiger Film, dem es gelingt, weitgehend auf Klischees zu verzichten und ein Stück deutsch-deutscher Alltäglichkeit zu erzählen: Es waren ja mehr als zwölftausend DDR-Spione im Westen unterwegs.

Im Anschluss an den Film zeigt die ARD die Dokumentation Westagenten für die Stasi, die Bea Kanters fiktive Geschichte in ihren historischen Zusammenhang stellt.

Unsichtbare Jahre, ARD, 20.15 Uhr.

© SZ vom 25.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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