Belgische Medien:Die schon wieder!

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Lagerkämpfe und Beschimpfungen: Die mediale Aufarbeitung der Terroranschläge von Brüssel macht sichtbar, wie tief die Gräben zwischen Flamen und Wallonen in Belgien wirklich sind.

Von Thomas Kirchner

Belgien hat viel einstecken müssen. Der Schock, dass die Spur von den Pariser Anschlägen mitten nach Brüssel führte. Wut und Scham angesichts internationaler Kritik am Versagen der belgischen Behörden ("gescheiterter Staat"). Schließlich die Trauer nach den Attacken, die Brüssel selbst heimsuchten.

Kurz war das Land im Schmerz vereint. Man legte Kränze nieder, stellte Kerzen auf. Dann gingen die Flamen und die französischsprachigen Wallonen zur Tagesordnung über: aufeinander eindreschen. Die Medien sind ihre Sprachrohre und somit Teil des Spiels. Nie zeigte sich das so deutlich wie in den vergangenen Wochen.

Wie Molenbeek zur Brutstätte des Terrors wurde? Flämische Medien wie De Morgen und De Standaard fanden den Schuldigen schnell: Philippe Moureaux, frankophoner Sozialist und langjähriger Bürgermeister des Stadtteils, der über viele Übel blauäugig hinweggesehen habe. So einfach ist das nicht, entgegneten französischsprachige Zeitungen wie Le Soir prompt, schließlich hätten die Flamen Brüssel jahrzehntelang verhungern lassen. Wie gut der Beschuldigungsreflex funktioniert, zeigte sich auch, als aus Flandern angereiste Hooligans eine Brüsseler Trauerfeier aufmischten. Flandern habe Brüssel mit seinen Extremisten "verschmutzt", ätzte Brüssels Bürgermeister Yvan Mayeur in Le Soir, wofür er sich nach erbitterten Protesten entschuldigen musste.

Eine typische Nachricht in Le Soir begann kurz nach den Anschlägen mit diesem Satz: "Man fragt sich, ob es in diesen bewegten Zeiten angebracht ist, wieder mit dem Pingpong-Spiel der Sprachgruppen zu beginnen." Dann folgt eine jener provozierenden Forderungen eines flämischen Politikers zur Zusammenlegung der zersplitterten Brüsseler Polizeibehörden, über die sich die wallonische Leserschaft dann jeweils zuverlässig ereifern kann.

"Jedes Medium verteidigt die Sichtweisen seiner Sprachgemeinschaft", sagt Jean-François Dumont vom Journalistenverband AJP. "Alles, was mit dem Streikproblem der Wallonie zu tun hat, mit Demonstrationen für mehr Geld und weniger Arbeit oder mit Fällen von Pädophilie, findet seinen Weg sofort in flämische Zeitungen. Andersherum berichtet die frankophone Presse ausführlichst über den Nationalismus, Separatismus und Extremismus flämischer Politiker." Nur zwei Themen erlaubten, neben Katastrophen, eine gesamtbelgische Sicht: Fußball und Monarchie.

Man beginne immerhin, sich miteinander zu befassen, sagt der Mann vom Journalistenverband

Die These stimme nicht ganz, sagt Béatrice Delvaux, Kommentatorin und frühere Chefredakteurin von Le Soir. "Wir schreiben nicht nur, was unsere Sprachgruppe denkt, wir kritisieren sie auch oft." Sie habe die Politiker mehrmals aufgefordert, etwas gegen die Verwahrlosung von Teilen Brüssels und vor allem die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu unternehmen, etwa in einem gemeinsamen Artikel mit De Morgen. Delvaux hebt auch eine spektakuläre Kooperation mit De Standaard hervor, der anderen flämischen Qualitätszeitung. Sie folgte Anfang 2008 auf eine Nachrichtenfiktion des frankophonen Fernsehens, das den angeblichen Austritt Flanderns aus dem Königreich bekannt gegeben hatte. Nach erbitterter Polemik über die Klischee-Bilder, die Flamen und Wallonen voneinander pflegen, antworteten die beiden Zeitungen mit dem Austausch von Journalisten und einem vierwöchigen gemeinsamen Politikteil. "Es war keine politische Geste, wir haben nur unseren Job gemacht", sagt Delvaux. "Was wir vor allem herausfanden: wie wenig wir übereinander wissen."

Viel, das zeigten die Wochen nach dem Terror, scheint sich seither trotzdem nicht verbessert zu haben - auch wenn Bart Eeckhout, Kommentator von De Morgen, den Vorwurf totaler Einseitigkeit nicht gelten lassen mag. Er selbst kann zwar mit Verve über die Wallonen schimpfen, vergisst aber nie, den eigenen Landesteil an seine Verantwortung zu erinnern. "Warum fehlen Polizisten, warum lachen alle über die Geheimdienste? Weil sie zu wenig Geld bekommen. Die Flamen haben einen so komplizierten Staat erzwungen, dass er nicht mehr effizient sein kann. Aber das Thema ist tabu in Flandern. Wenn ich es anspreche, nennt man mich einen belgischen Nationalisten."

Immerhin etwas Bewegung erkennt Dumont vom Journalistenverband. Man beginne, sich miteinander zu befassen: Zeitungen, die wöchentlich einen Blick in den anderen Landesteil werfen; der Sender RTL, der samstags Nachrichten aus Flandern bringt. Der Fonds Prince Philippe, der Praktika in Redaktionen der anderen Sprachgemeinschaft ermöglicht. Doch dazu muss man diese Sprache lernen, und das wollen immer weniger Belgier. Die Website daardaar.be versucht seit einem Jahr, die Verständnisprobleme mit Übersetzungen aus flämischen Blättern zu überwinden. Bald will sie auch das Umgekehrte liefern.

Politisch hingegen sind die Signale eher in Richtung einer Aufspaltung Belgiens gestellt. Die Streitereien nehmen zu. "Belgien ist kein Land mehr", sagt der junge Journalist Christophe Degreef, "es fällt seit sechzig Jahren auseinander. Die Teile haben keine gemeinsame Sprache oder Identität." Die Ansichten über gesellschaftliche Grundsatzfragen, etwa in der Flüchtlings- oder Wirtschaftspolitik, seien auch in den Redaktionen beider Seiten derart unterschiedlich, dass gelegentliche Kooperationen der Zeitungen wenig bewirkten.

Könnte ein überparteiliches Medium helfen, etwa ein englischsprachiges? Im belgischen Rahmen wäre das aussichtslos, beteuern alle. Und doch sei der Blick von außen willkommen. Jener Text, der Belgien als "failed state" bezeichnete, erschien auf politico.eu, der Website zu EU-Fragen. "Mir hat das die Augen geöffnet", so Bart Eeckhout. "Vielen anderen auch."

© SZ vom 12.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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