Seniorensport:Wenn Opa Marathon läuft

Seniorensport: Klemens Wittig, 80, zählt zu den besten Sportlern in seiner Altersklasse.

Klemens Wittig, 80, zählt zu den besten Sportlern in seiner Altersklasse.

In der alternden Gesellschaft steigt auch der Altersdurchschnitt bei Hobbysportlern. Senioren wie Klemens Wittig stehen für eine neue Fitness der Älteren - die 42 Kilometer schafft der 80-Jährige in 3:39 Stunden, trotz Hexenschuss.

Von Titus Arnu

Es ist kalt, grau und nass, aber Klemens Wittig joggt lächelnd durch den Wald. Seine Runde durch das Grävingholz, ein Naturschutzgebiet im Norden von Dortmund, ist fünf Kilometer lang. Weiße Pfeile an den Bäumen markieren die Richtung, aber Wittig könnte jede Abbiegung mit geschlossenen Augen finden. "Ich bin hier gut 100 000 Kilometer gelaufen", sagt er, zweieinhalb Mal rund um die Welt. Was Laufen für ihn bedeutet, das formuliert Wittig so: "Wenn ich Sorgen hatte oder mich über jemanden ärgern musste, hab' ich das in kleine Päckchen gepackt, fest verschnürt und rechts und links von der Lauftsrecke im Wald abgelegt."

Vielleicht ist Klemens Wittig wegen seiner selbst entwickelten Psycho-Päckchen-Methode so gut drauf. Vielleicht auch, weil er sich immer bewegt hat - körperlich und geistig. Jedenfalls besteht ein Trainingslauf mit ihm zu gleichen Teilen aus Transpiration und Inspiration.

Es ist seine erste Runde nach einer vierwöchigen Verletzungspause. Wittig geht es langsam an, ein Schnitt von 6:30 Minuten pro Kilometer. Die Rentner, die im Wald mit ihren Hunden spazieren gehen, sehen allesamt jünger und unfitter aus. Klemens Wittig ist 80 Jahre alt - und hat den Frankfurt-Marathon Ende Oktober in 3:39 Stunden absolviert. Europarekord in seiner Altersklasse. Trotz Hexenschuss am Vorabend und Sturz bei Kilometer 34, bei dem er sich das Schlüsselbein brach.

Beim Frankfurt-Marathon gingen 14 000 Sportler an den Start, unter ihnen 695, die 60 Jahre oder älter waren. Ähnliche Vergreisungstendenzen sind auch bei anderen Sportveranstaltungen zu beobachten. Die Gesellschaft wird insgesamt älter, und damit steigt auch der Altersdurchschnitt von Hobbysportlern. Attraktiv für betagte Sportler sind vor allem Ausdauerdisziplinen - denn zum einen haben Senioren genug Zeit, um das aufwendige Trainingsprogramm für Langstrecken zu absolvieren, zum anderen lässt die Kondition nicht so schnell nach wie die Muskelkraft.

Wer fleißig trainiert und die körperlichen Anlagen dafür hat, kann auch im hohen Alter noch Höchstleistungen bringen. Der indisch-britische Läufer Fauja Singh schaffte mit 100 Jahren noch einen Marathon, wenn auch im Spaziergänger-Tempo. Der Kanadier Ed Whitlock rannte täglich um einen Friedhof und lief mit 73 Jahren einen Marathon unter drei Stunden - eine Zeit, von der manch ambitionierter Dreißigjähriger träumt. Und Klemens Wittig will alle 14 möglichen deutschen Lauf-Rekorde in seiner Altersklasse schaffen, von der 100-Meter-Strecke bis zum Marathon. Zehn davon hat er schon.

Weltspitze mit 80? Wenn man Klemens Wittig auf seiner Grävingholz-Runde laufen sieht, glaubt man sofort, dass er seine ehrgeizigen Ziele erreicht. Er ist drahtig, beweglich, wiegt nur 62 Kilogramm. Beim Laufen hat er noch genug Puste, um über seine ungewöhnliche Spätberufenen-Sportlerkarriere zu erzählen.

Als junger Mann war Klemens Wittig nicht besonders fit. Er arbeitete als Ingenieur in der Stahlindustrie und war Raucher. Auf Freizeiten der Katholischen Jugend war er für den Frühsport zuständig - und merkte irgendwann, dass die Kinder fitter waren als er. Er hörte auf zu rauchen und begann zu trainieren. Da war er 40, ein Alter, in dem es für die meisten Männer körperlich bergab geht; ab 35 gilt man bei den meisten Sportwettbewerbern als Senior.

Für Wittig war das ein Wendepunkt. Er begann zu laufen, bestieg 33 Viertausender in den Alpen und absolvierte mit 49 Jahren seinen ersten Marathon in Duisburg in 3:18 Stunden. Mit 56 erzielte er beim Hannover-Marathon seine persönliche Bestzeit, 2:50 Stunden. Mit 70 stieg er in die internationale Laufszene ein, mit dem Ziel, Europameistertitel und Weltrekorde zu ergattern. Tatsächlich ist das kein vermessenes Ziel: Für einen gut trainierten 75- oder 80-Jährigen steigt die Wahrscheinlichkeit, einen Titel zu gewinnen - schließlich sinkt die Zahl der Gegner von Jahr zu Jahr. Bei manchen Wettbewerbern ist Klemens Wittig der einzige Teilnehmer seiner Altersklasse.

Nach dem kurzen Trainingslauf im Grävingholz freut sich Wittig, dass seine Schulter so gut verheilt ist und führt den Besucher durch sein Haus in Dortmund-Brechten. Im Keller und im Arbeitszimmer sind Medaillen und Pokale ausgestellt, an der Wand hängen Fotos von Reisen und Bergbesteigungen. Im Wohnzimmer steht ein großer Teller mit Plätzchen. Kalorien muss er nicht unbedingt zählen, er läuft seit Jahren 90 Kilometer pro Woche: "Ich esse, so viel ich kann." Jeden Mittag kocht ihm seine Frau ein komplettes Menü, Suppe, Salat, Hauptgericht und Dessert, danach gibt es Kaffee und Kuchen. Sein Hochzeitsanzug, den er vor mehr als 30 Jahren gekauft hatte, passt ihm immer noch.

Sport im Alter hebt die Lebenserwartung um bis zu 3,8 Jahre

Wenn man Klemens Wittig laufen sieht, könnte man ihn für zwanzig, dreißig Jahre jünger halten. Warum das so ist, das begründet Wittig so: "Ich bin kein besonderes Talent, ich bin nur sehr diszipliniert." Sportwissenschaftler gingen bisher davon aus, dass die maximal mögliche Sauerstoffabnahme des Körpers ab dem 30. Geburtstag stetig abnimmt, pro Jahrzehnt etwa um zehn Prozent. Man wird automatisch langsamer und schwächer. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass sich dieser Prozess mit gezieltem Training verlangsamen lässt.

Klemens Wittig setzt auf eine Kombination aus Tempoläufen und langen Regenerationsläufen. Sein Ziel: "Nächstes Jahr könnte ich in meiner Altersklasse Europas Sportler Nummer eins sein." Er wirkt allerdings weniger verbissen, als das klingt. Sein Terminkalender ist zwar gut gefüllt, aber es stehen nicht nur Trainingseinheiten darin. Er hat eine große Familie mit zwei Töchtern, vier Enkeln und einem Urenkel. Wenn kein wichtiger Wettkampf ansteht, unternimmt er große Radtouren, etwa von Dortmund nach Petersburg, nach Santiago de Compostela oder quer durch die USA. Über seine Reisen hält er regelmäßig Vorträge.

Schwedische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Sport im Alter die Lebenserwartung um bis zu 3,8 Jahre steigern kann. Wenn alles gut geht, will Klemens Wittig noch so lange laufen, wie es seine Beine ihm ermöglichen. Er wohnt mit seiner Frau neben dem Brechtener Friedhof, eine Grabstelle hat er sich schon ausgesucht. Aber das muss nichts heißen.

"Wenn ich 100 Jahre alt werde", sagt Wittig, "dann laufen meine Enkeltöchter gemeinsam einen Marathon mit mir. Das haben sie mir versprochen." Noch sind sie langsamer als er.

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