Religion:Leib und Seele

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Eine Szene wie aus dem christlichen Bilderbuch. Das Tischgebet ist freilich aus kaum einer Weltreligion wegzudenken. (Foto: Corbis)

Das Tischgebet ist bei vielen Christen aus der Mode gekommen. Das heißt nicht, dass es keine Versuche gäbe, dieses Ritual wiederzubeleben.

Von Jakob Wetzel

Plötzlich wird es still. Gerade haben die Kinder noch wild durcheinandergerufen. Der kleine Leopold hat lautstark verkündet, er sei schon vier Jahre alt und größer als sein Freund, der Vincent. Da hält er inne, setzt sich an den Tisch und faltet die Hände. "Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, oh Gott, von Dir, wir danken Dir dafür", spricht er mit den anderen Kindern. Dann fasst er seine Tischnachbarn an den Händen. "Wir wünschen uns einen guten Appetit und ein gutes Mittagessen!" Der Topf steht auf dem Nebentisch, es gibt Gemüsesuppe, danach Grießbrei.

Leopold besucht den Kindergarten der evangelischen Erlöserkirche in München, mit 24 weiteren Kindern geht er in die Hasengruppe. Die Kinder beten zwei Mal am Tag, einmal vor der Brotzeit um halb zehn, einmal mittags. Das Ritual ist dem Kindergarten wichtig: Die Kleinen würden lernen, zur Ruhe zu kommen, sagt die stellvertretende Leiterin Sandra Binger. Und es gehöre zur religiösen Erziehung. Der Glaube soll Platz im Alltag finden, durch Bibel-Geschichten ebenso wie durch Tischgebete. Die Kinder sollen Demut lernen: Sie sollen begreifen, was eine Mahlzeit wert ist - und dass es nicht selbstverständlich ist, dass genügend Essen auf dem Tisch steht.

Auch wenn das in den Familien daheim oft keine große Rolle mehr spielt. Denn vor dem Essen zu beten ist aus der Mode gekommen - selbst in den Familien, deren Kinder den Kindergarten der Erlöserkirche besuchen. Fast alle Kinder würden als Dreijährige in der Einrichtung die ersten Gebete lernen, sagt Binger. Die wenigsten brächten Vorwissen mit.

Es müssen ja nicht 125 Wörter wie bei Thomas Morus sein

Jochen Ruiner und Josef Eberhard würden das gerne ändern. "Tischgebete schaffen ein Miteinander", sagt Ruiner. Er ist Priester und Sekretär der deutschsprachigen Provinz der katholischen Pallottiner-Gemeinschaft. Mit Eberhard hat er in deren Auftrag die Fastenaktion "Tischgebet ist Tischkultur" organisiert. Bis Karsamstag verschicken sie täglich zwei Gebete per E-Mail und über Facebook. Fast 1000 Menschen haben sich angemeldet. Und auf www.tischgebete.de haben die Pallottiner ein Nachschlagewerk zusammengetragen, mit Informationen zu Tischmanieren und gesunder Ernährung ebenso wie zum Sinn des Betens. Derzeit haben sie 119 Gebete gesammelt, von Kinderreimen wie "Lieber Gott, lass Deinen Segen über unsern Teller fegen" bis hin zu Gebeten, für die hungrige Beter etwas Geduld mitbringen müssen. "Schenke mir eine gute Verdauung, Herr, und auch etwas zum Verdauen", begann etwa der Humanist Thomas Morus eines seiner Gebete. Bis zum "Amen" braucht er in deutscher Übersetzung 125 Wörter.

Ruiner und Eberhard laden ein nach Friedberg bei Augsburg, in den Sitz der Pallottiner-Provinz. "Wir wollen weitergeben, was uns selbst im Tagesablauf hilft", sagt Ruiner. Wenn sich die Pallottiner zum Essen versammeln, warten sie stehend aufeinander, dann beten sie und setzen sich gemeinsam. Nach dem Essen sprechen sie ein Dankesgebet. Bei ihrer Fastenaktion gehe es aber nicht nur um das Religiöse, sondern vor allem um die Familien, sagt Eberhard: darum, sich Zeit füreinander zu nehmen. Eltern sollen Anregungen erhalten, um eine Tischkultur zu finden. Ob sie gemeinsam den Tisch decken, kochen oder eben beten: "Feste Rituale sind hilfreich."

Eberhard findet Bestätigung in der Pflegewissenschaft: Wie wichtig Rituale und gerade Tischgebete sind, zeige sich bei Demenzkranken, sagt Christian Rester. Der Professor an der Technischen Hochschule Deggendorf erforscht den Pflegebedarf einer alternden Gesellschaft. Er spricht von "reaktiven Potenzialen" und von Fähigkeiten, die noch vorhanden, aber verschüttet sind, weil das Kurzzeitgedächtnis nicht mehr funktioniere. "Manche Menschen haben verlernt zu sprechen oder zu essen", sagt er. Tischgebete aber ließen sich noch abrufen: Die Kranken sprechen mit, und dabei erinnern sie sich daran, wie man isst. Und sie öffnen sich. Er selbst habe zwei Jahrzehnte in der Pflege gearbeitet und das immer wieder erlebt, bei Tischgebeten genauso wie bei Kinderliedern: Patienten, die immer wieder neu vergessen, wer ihr Pfleger ist, fassen beim Beten Vertrauen. "Tischgebete schaffen eine Vertrautheit, eine Gemeinschaft." Die Kranken merken, dass der Pfleger ihr Freund ist.

Wichtig sei aber: Das Ritual müsse positiv verankert sein, sagt Rester. Wenn sich ein Patient vor einem strafenden Gott fürchte, sei ein Gebet kontraproduktiv. Bei einem barmherzigen, verzeihenden Gott dagegen sei der positive Effekt spürbar.

Dabei ist es irrelevant, welchen Glauben die Menschen haben. Tischgebete gibt es in allen Weltreligionen. Christen bedanken sich bei Gott für die Schöpfung, Protestanten wie Katholiken. Beide nähmen sich Jesus zum Vorbild, der das Brot bricht, sagt Jochen Ruiner. Ganz ähnlich bedanken sich Hindus für die Nahrung und für das Leben, das ihnen geschenkt worden sei, sagt Malikarchchuna Paskaran aus Hamm in Nordrhein-Westfalen. Dort steht der größte Hindutempel Deutschlands; weil ihr Vater Priester ist, weiht er vor dem Essen zudem Speisen an einem kleinen Altar.

Juden sprechen vor dem Essen vier Segenssprüche: für das Essen, für Israel, für Gottes Güte und für Jerusalem. Es gebe eine kurze und eine lange Fassung, sogar ein Tischlied, sagt der Berliner Rabbiner Daniel Alter. Auf das Essen folgt ein Dankesgebet, so stehe es auch im fünften Buch Mose: "Wenn du gegessen hast und satt bist, sollst du Gott loben und danken." Für Juden, die sich an die Gebote halten, habe das Tischgebet einen hohen Stellenwert.

"Ich kenne kaum eine Familie, die kein Tischgebet spricht."

"Ich kenne kaum eine Familie, die kein Tischgebet spricht", sagt auch der Münchner Imam Ahmad Al-Khalifa. Muslime beten sinngemäß: "Lieber Gott, segne, was Du uns gegeben hast, und schütze uns vor der Strafe des Feuers"; die Formel stamme wörtlich von Mohammed, sagt Al-Khalifa. Kinder lernen sie auswendig. Wer beim Essen merkt, dass er das Gebet versäumt hat, kann es nachholen. Nach dem Essen steht ein "Alhamdulillah", ein "Gott sei Dank".

Selbst Buddhisten, die an keinen äußerlichen Gott glauben, beten vor dem Essen. Die Buddha-Natur sei überall, auch in jedem Einzelnen, sagt Lama Tsering vom Münchner Drikung-Garchen-Institut für tibetischen Buddhismus. So wird das Essen selbst zum Gottesdienst. Es wird gesegnet: Die Gläubigen ehren buddhistische Meister; sie bereinigen die Speisen von der "Anhaftung" an das Weltliche, damit auch die Buddha-Natur davon profitiere. Und sie sprechen einen Segen zum Schutz. Im Institut gibt es ein eigenes Tischgebet auf Tibetisch; es ist zwölf Zeilen lang. Morgens wird es vollständig gesprochen; mittags und abends reicht das erste Drittel.

Die Kinder im Kindergarten der Münchner Erlöserkirche lieben ihre Tischgebete. Mit sechs Jahren können sie ein halbes Dutzend, sagt Sandra Binger - darunter auch längere wie das mit der Kartoffel: "Mal esse ich Kartoffel, mal esse ich Quark, mit den Gaben der Natur werde ich groß und stark. Drum bitt' ich Dich, lieber Gott, um eines nur: Schütze und erhalte uns die Natur." Nicht alle Kinder sind evangelisch oder überhaupt getauft. Aber sie wollen beten, das Ritual ist ihnen wichtig. Wenn die Betreuerinnen das Beten vergessen, beschweren sich die Kinder. Es fehlt etwas. Und dann wird das Tischgebet nachgeholt.

© SZ vom 28.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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