Medizin und Wahnsinn (83):Spitze des Fortschritts

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Wir stehen fassungslos vor einer stetigen Kostenexplosion im Gesundheitswesen? Alte Menschen sind teurer als Jüngere? Das ist Propaganda.

Werner Bartens

Überall kann man es hören, bis man es nicht mehr hören kann. Ständig ist vom medizinischen Fortschritt die Rede, der die Kostenexplosion im Gesundheitswesen ausgelöst hat. Wir alle wollen länger und gesünder leben, heißt es dann immer, und das kostet eben.

Deutschland hat nach den USA und der Schweiz zwar immer noch eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt - teurer ist es allerdings in den letzten Jahren im Verhältnis zum Umsatz des Landes nicht geworden. (Foto: Foto: iStockphotos)

Dabei ist fast alles an diesen Aussagen falsch. Länger leben durch medizinischen Fortschritt? Verschiedenen Untersuchungen zufolge geht der seit 1900 zu beobachtende Anstieg der Lebenserwartung um mehr als 20 Jahre nur zu drei bis vier Jahren auf den medizinischen Fortschritt zurück.

Die Hauptgründe dafür, dass Menschen in Deutschland heute im Mittel 80 Jahre alt werden, sind demnach Kanalisation und verbesserte Sanitäreinrichtungen, Kühlschrank und Gefriertruhe.

Wir stehen fassungslos vor einer stetigen Kostenexplosion im Gesundheitswesen? Das ist Propaganda. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt liegt seit Jahren bei etwas mehr als zehn Prozent. Zuletzt ist er sogar von 10,5 auf 10,4 Prozent zurückgegangen. Damit hat Deutschland nach den USA und der Schweiz zwar immer noch eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt - teurer ist es allerdings in den letzten Jahren im Verhältnis zum Umsatz des Landes nicht geworden.

Teuer vor dem Tod

Dass die medizinische Versorgung teurer wird, weil die Menschen älter werden, stimmt ebenfalls nicht. Fast jeder Mensch kostet das Gesundheitswesen am meisten in dem Jahr vor seinem Tod, egal ob er mit 50, 75 oder 100 stirbt. Jüngere sind sogar teurer, denn bei einem 50-Jährigen bemühen sich die Ärzte intensiver, sein Leben zu erhalten, als bei einem 100-Jährigen, dem nicht alle Therapiemöglichkeiten und Reanimationsversuche zugemutet werden.

Medizinischer Fortschritt, was heißt das überhaupt? In den vergangenen Jahren sind Dutzende Untersuchungen in angesehenen Fachzeitschriften erschienen, die zeigen, dass neu nicht automatisch besser ist, sondern oft nur teurer. Beispiel Blutdrucksenker: Die neuen Mittel kosten bis zum Zehnfachen der alten, sind aber weder effektiver noch sicherer. Das Gleiche gilt für Psychopharmaka und viele andere Medikamentengruppen. Die Vorteile sind bestenfalls marginal, oft nicht vorhanden. Dafür gibt es neue Nebenwirkungen.

Medizinischer Fortschritt ist auch die bessere Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Dass die Erfindung und Verbreitung der Antibiotika eine Erfolgsgeschichte ist, darin sind sich die meisten Experten einig. Wohl wahr, die Ausrottung der Pocken und die Eindämmung vieler anderer Leiden wie Pest und Cholera hat viele Leben gerettet und Leiden gemindert.

Dass der oftmals wahllose Antibiotikaverbrauch die mehr als 500.000 jährlichen Krankenhausinfektionen in Deutschland zumindest begünstigt und weitere Resistenzen dadurch entstehen, stimmt leider auch. Man muss das nicht gegeneinander aufrechnen, denn auf Antibiotika will heute niemand mehr verzichten.

Bekämpfung von Infektionskrankheiten bedeutet heute aber auch: Wenn ein Drittel der Kindergartenkinder einer Einrichtung vor vier Wochen krank war, wird zwei Wochen später darum gebeten, freiwillig Stuhlproben der Kinder abzugeben.

Offenbar dauert es zwei weitere Wochen, bis die Ergebnisse vorliegen. Es gab ein paar Fälle, in denen Rota- und Noroviren nachgewiesen wurden. Jeder, der Kinder hat oder selbst mal von den Viren erwischt wurde, weiß, dass die Beschwerden schnell wieder vorüber sind und auch die Ansteckungsgefahr selten länger als eine Woche besteht.

Die meisten der Kinder waren wieder gesund. Trotzdem wurde der Kindergarten sofort geschlossen und gesäubert, als die Ergebnisse vorlagen. Aus gesundheitlichen Gründen, versteht sich. Proben, Tests, Hygienemaßnahmen - ein kleiner Fortschritt zur weiteren Kostenexplosion im Gesundheitswesen.

© SZ vom 13.06.2009/mmk - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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