Kinder - der ganz normale Wahnsinn:Tausendfache Raserei

Warum lässt Eltern das Fehlverhalten fremder Kinder eher kalt, während ihnen dieselbe Missetat der eigenen Kinder in kürzester Zeit die Zornesröte ins Gesicht treibt? Schuld ist der Faktor tausend.

Katja Schnitzler

Wieso, fragte einmal der Nachbar und Vater zweier Kinder im selben Alter wie die eigenen, wieso eigentlich finde ich das Herumzicken deiner Kinder nicht so schlimm, während mich dasselbe Zicken meiner Töchter sofort zur Raserei bringt? Wir blickten sinnierend auf den gerade friedlichen Nachwuchs, bevor das Nachbarskind seine Schwester an der Jacke zerrte, diese nach hinten umkippte und heulend am Boden lag. Das brachte den Nachbar und Vater sofort zur Raserei. Ich betrachtete die Szene entspannt.

Natürlich interessieren mich die Fehler meiner eigenen Kinder schon deswegen mehr, weil ich deutlich öfter Zeit mit meinem Nachwuchs verbringe als mit allen anderen Kindern in der näheren und ferneren sozialen Umgebung. Und weil ich als offizieller Erziehungsberechtigter und -verpflichteter dafür zuständig bin, dass mein Kind am nächsten Tag am Spielplatz nicht wieder seinen Nächsten mit der Plastikschaufel niederstreckt.

Diese Verantwortung, ein sozial kompatibles Mitglied der Gesellschaft heranzuziehen, das sich idealerweise auch schon in jüngeren Jahren in die Familie integriert, lastet ständig auf den Eltern. Immer. Überall. Da wäre es schön, wenn man sein Kind nur ein- bis dreimal auf ein Fehlverhalten hinweisen müsste, um dieses abzustellen. Doch so einfach ist das nicht. Schuld ist der Faktor tausend.

Er offenbart sich in erzieherisch gemeinten Dialogen spätestens bei der dritten Ermahnung:

"Leon, du sollst doch nicht mit Sand werfen, das tut weh." ("Nicht mit Sand werfen" können Sie durch jedes beliebige Thema ersetzen, etwa mit "Du sollst dein Zimmer aufräumen, dieser Anblick schmerzt ebenfalls.")

Leon klatscht eine Ladung Sand auf den Kopf des Kontrahenten.

"Leon, gerade habe ich dir gesagt, du sollst nicht mit Sand werfen!"

Leon wartet, bis sich das Kind neben ihm den Sand aus dem Haar geschüttelt hat, zielt diesmal besser und schleudert die nächste Handvoll direkt ins Gesicht.

"LEON, HABE ICH DIR NICHT SCHON TAUSEND MAL GESAGT, ..."

Kinder, die die Gefahr suchen, sagen in diesem Moment: "Nein, hast du nicht." Die meisten reagieren aber gar nicht, denn ja, sie haben das schon oft gehört, sehr oft, wie das ferne Rauschen einer Autobahn an einem Sommerabend. Und auf dieses Rauschen zu achten haben sie in dem Moment wirklich keine Zeit. Sie sind beschäftigt, mit Sandwerfen.

Erst wenn die Mutter - rot vor Zorn - das Erziehungsgeheul anstimmt, mit sofortigem Verlassen des Spielplatzes und dem Verbot sämtlicher Süßigkeiten droht, dringen die Schreie durch.

Wer schon länger nicht mehr gesehen hat, wie eine Kinnlade herunterklappt, lässt das tobende Elternteil nicht aus den Augen. Denn das Kind, das gerade wieder eine Handvoll Sand schleudern wollte, fragt mit zartem Stimmchen:

"Hast du was gesagt, Mama?"

Wie Eltern solche Situationen vermeiden können, erklärt Psychologin und TripleP-Trainerin Silke Rieckenberg in den Expertentipps zur Kolumne.

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