Kampf gegen Übergewicht:Zehn Kniebeugen für einen Gratisfahrschein

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Die Menschen werden dicker - und die Angst vor der Verfettung bringt die seltsamsten Ideen hervor. (Foto: dpa)

Die Menschen werden dicker - und die Angst vor der Verfettung bringt auf der ganzen Welt die seltsamsten Ideen hervor. Nur über die einzig sinnvolle Diät denkt niemand nach.

Von Gerhard Matzig

In Mexiko wurden 1300 Polizisten auf Diät gesetzt. Vergebens. Noch immer gilt: Die Mexikaner sind zu dick. Nirgendwo sonst auf der Welt hat die Zahl der Fettleibigen in den letzten zwei Jahrzehnten so, im Wortsinn, zugenommen. Deutschland ist übrigens nicht in der Lage, sich darüber zu erheben. Weil selbst zu schwer. In XXL-Germany ist jeder zweite Erwachsene zu voluminös.

Der Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO, der am Mittwoch bekannt wurde, warnt ganz Europa vor einer "Übergewichts-Krise enormen Ausmaßes". In manchen Ländern werden Normalgewichtige im Jahr 2030 als Alien gelten.

Es sei denn, die Fähigkeit zur Kreativität überragt die Fähigkeit, sich mit Lebensmitteln vollzustopfen, die eigentlich Lebensvergiftungsmittel sind. Kann man also vom amtierenden Adipositas-Dorado Mexiko lernen? Das Lachen schon.

In Santiago wird belohnt, wer die Treppe nimmt

Zuletzt wurde beispielsweise diese Fitnessaktion aus Mexiko-Stadt bekannt: U-Bahn-Stationen wurden mit Geräten ausgerüstet, die im Gegenzug zu zehn Kniebeugen einen Gratisfahrschein ausspucken. Außerdem wird der Fahrgast darüber informiert, wie viele Kalorien er durch die Fitnessübung verbrennt. Nicht informiert wird er darüber, was es bringt, wenn man die U-Bahn durch ein Fahrrad und Fast Food durch Essen ersetzt.

Was sich Städte in aller Welt zur allgemeinen Verdünnisierung einfallen lassen, gerät umso seltsamer, je dramatischer das Problem um sich greift. Mick Cornett, Bürgermeister von Oklahoma City, hatte die Vision, zusammen mit den Bürgern eine Million Pfund abzunehmen. So viel wiegen 100 Elefanten. Cornett hatte die Idee im Zoo - und nachdem er gelesen hatte, dass Oklahoma City zu Amerikas dicksten Städten zählt (Rang 1: Las Vegas). Nach vier Jahren war es geschafft. Knapp 50 000 registrierte Abnehmwillige stellten sich auf die Waage - und in Oklahoma City lebten fürderhin 100 Elefanten weniger.

In Santiago de Chile wird man an der U-Bahn-Station Quinta Normal belohnt, wenn man die echte Treppe nimmt und auf die Rolltreppe verzichtet. Mit Musik. Betritt man die Stufen der umgebauten Treppe, so erklingen Töne wie bei einem Klavier. Ein ähnliches Beispiel mit musikalischer Treppe und herumhüpfenden Treppenvirtuosen ist aus Stockholm bekannt. Und in London haben sich Architekten besonders um die Ästhetik von Treppenhäusern in Bürotürmen bemüht.

Das Kalkül: Wenn die Treppen schöner sind als die Liftkabinen, dann nimmt niemand mehr den Lift. Eine Annahme, die sich leider nicht bestätigt hat. Um das zu ändern, müsste der Hausmeister gelegentlich den einen oder anderen Aufzug abstürzen lassen.

Es ist die Verzweiflung, die aus solchen Aktionen spricht. Man ahnt in den Städten, dass man mit den üblichen Frühjahrsappellen, wie sie auch jetzt wieder zu hören sind, nicht weiterkommt. Dennoch schön, dass in den Münchner Parks seit 1. Mai Qi Gong, Zumba oder Pilates angeboten werden ("Fit im Park"). Oder dass die Städte so viele Stadtläufe ausrichten, dass man als simpler Fußgänger verhaltensauffällig wirkt - vor allem dann, wenn man auch keine Fitnessuhr besitzt, die wenigstens die Schritte zählt, um das Ergebnis der Vital-Community zu melden.

Im Grunde kann man also dem Abnehmen nicht entkommen. Paradoxerweise werden nicht nur wir, sondern insbesondere auch die Fitness- und Diät-Branche vor allem eines: immer fetter.

"Du wirst mit uns in nur acht Wochen abnehmen, fit und definiert werden. Forme jetzt deinen Traumbody, komm zu uns und mach dich krass!" Das verspricht, nein, das fordert der TV-Moderator Daniel Aminati. Wobei der nebenberufliche "Sport-Enthusiast" verrät, er sei so "glücklich, stark & fit" wie noch nie in seinem Leben. Nachzulesen ist das auf machdichkrass.de.

Dort erhält man auch die Formel für das Glück. Sie kostet 79 Euro. Bei der Konkurrenz, auf machdichleicht.de, kostet das Glück ebenfalls 79 Euro. Mithilfe der TV-Schauspielerin Ursula Karven, die im Nebenberuf "Yoga-Botschafterin" ist, wird man "schlank, gesund, entspannt". In zehn Wochen.

Schlank und fit und entspannt und glücklich soll man sein

Das reicht. In acht bis zehn Wochen hat man den finalen Termin am Strand. Dann dämmert auch dem letzten Unkrassen unter der Sonne, dass Peter Sloterdijks bekannter Essay über die Anthropotechnik ("Du mußt dein Leben ändern") schon längst wahr geworden ist, wenn auch jenseits der Suhrkamp-Kultur. Der Mensch ist erst dann ganz Mensch, wenn er krass oder leicht oder, im Idealfall der Selbstoptimierung, krass leicht ist.

Nie zuvor gab es so viele Möglichkeiten, schlank und fit und entspannt und glücklich zu sein. Nie zuvor auch gab es so viel Fettsucht in der Welt. Wogen 1980 noch 857 Millionen Menschen zu viel, weltweit, so waren es 2013 bereits 2,1 Milliarden Menschen. Die sozialen und wirtschaftlichen Kosten, die durch falsche Ernährung entstehen, belaufen sich nach einer Studie aus dem Jahr 2013 auf dreieinhalb Milliarden Dollar pro Jahr (etwa 3,1 Milliarden Euro). Das Problem ist gigantisch. Das gilt aber auch für die Möglichkeiten, damit gigantisch viel Geld zu verdienen.

"Schlank über Nacht" - "Schlank im Schlaf" - "Schlank durch Hypnose" - "Fit und schlank mit der Powernahrung der Azteken": Manchmal hat man im Buchladen das Gefühl, die Welt leide in Wahrheit nicht an zu vielen dicken Menschen, sondern nur an zu vielen dicken Büchern und ihren dünnen Heilsversprechungen. Oder an Promis, die gleichfalls dazu beitragen.

Megan Fox etwa rät zu Apfelessig vor jeder Mahlzeit. Brunnenkressesuppe empfiehlt dagegen Elizabeth Hurley - und zwar sechsmal täglich. Jennifer Aniston schwört auf Zitronensaft, und Beyoncé verzichtet mitunter ganz auf feste Nahrung, ein Saft aus Ahornsirup und Cayennepfeffer tut es auch. Ob Dukan-Diät (Jennifer Lopez) oder Faktor-Fünf-Diät (Katy Perry): Der Krieg der Kulturen und Religionen ist nichts gegen den Krieg der Diätformeln.

Kniebeugen in der U-Bahn, Treppenhaus-Renaissance, Ahornsirup - geht's noch? Nur ein Umdenken der Nahrungsmittelindustrie und der Konsumenten würde gegen die Volksseuche helfen. Das sich selbst nährende, immer fetter werdende Perpetuum mobile aus krankmachenden Nahrungsmitteln und krank wirkenden Gesundungsvorschlägen, in denen sich Essmoden und Fitnessmoden abwechseln, sollte man abschalten. Dann könnte man über die einzig sinnvolle Diät nachdenken: über eine Diät für die Nahrungsmittel-Mafia. Leider haben wir dafür keine Zeit, wir müssen uns jetzt endlich krass machen.

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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