Familie:Der Spielplatz - Reservat des schlechten Gewissens

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Immer weniger Kinder - immer mehr Spielplätze. (Foto: Stephan Rumpf)

In Deutschland gibt es immer weniger Kinder. Dafür immer größere und teurere Spielplätze. Was für ein Irrsinn!

Von Gerhard Matzig

Sobald die Tage wärmer werden, verwandelt sich Deutschland in ein Kinderparadies. Scheinbar. Mehr als 120 000 Spielplätze gibt es in Deutschland. Die Tendenz ist steigend, was schon deshalb verblüffend ist, weil es hierzulande immer weniger Kinder gibt - und zugleich mehr Gerichtsverfahren wegen des offenbar in einer überalterten Single-Gesellschaft als unerträglich empfundenen Lärms, der von spielenden Kindern ausgeht.

Die Kinderliebe ist in Deutschland, um es vorsichtig zu formulieren, nicht besonders ausgeprägt. Gemessen an der Reproduktionsrate zählt das Land, in dem der Spielplatz einst im frühen 19. Jahrhundert erfunden wurde, zu den Schlusslichtern in Europa. Paradox ist aber auch, dass sich nach Angaben des Deutschen Kinderhilfswerkes, DKHW, ein Drittel der öffentlichen Spielplätze im kommunalen Zuständigkeitsbereich in einem desaströsen Zustand befindet: Die alten Spielgeräte rosten, das Holz ist morsch, Sandkästen werden von Disteln überwuchert.

Helmar Giebel, der für Deutschland zuständige Vertriebsdirektor der Firma Kompan, Weltmarktführer für Spielgeräte, sagt: "In den Städten gibt es den Trend zu Leuchtturm-Projekten." Das heißt: Die Spielplätze werden immer spektakulärer und größer, auch teurer und raffinierter. "Da fährt schon mal die ganze Familie mit dem Auto zu einem großen Spielplatz. Das ist ein Event." Aha. Auf der einen Seite: verwahrloste Spielplatzbrachen mit einstürzenden Wippen. Und auf der anderen Seite: größer, teurer und, natürlich, ein Event!

Wo sind eigentlich die Kinder?

Dazu kommen noch die vielen privaten Spielplätze, die nach DKHW-Angaben überall entstehen, während die öffentlichen Spielräume darben. Spielplätze im Kaufhaus (Bälleparadies) etwa oder im Restaurant (betreute Kinderecke). Dazu: professionell gemanagte, überteuerte Kindergeburtstags-Partyzonen allerorten. Und aus Gründen des Baurechts müssen in allen Neubaugebieten Spielplätze angelegt werden (Kinder werden behandelt wie Autostellplätze) - und zwar auch dann, wenn es dort gar keine Kinder gibt. So entsteht das Gefühl, man sei in Deutschland von Spielplätzen regelrecht umzingelt.

Es gibt Themen-Plätze (Mittelalter, Pirat, Dschungel); es gibt immer mehr und immer raffiniertere Spielgeräte; und die Spielplätze werden von Landschaftsarchitekten immer kunstvoller und moderner gestaltet. Fast könnte man auf die Idee kommen, eine an Kinderarmut leidende Gesellschaft schafft sich hier Reservate des eigenen schlechten Gewissens.

Und die wenigen Kinder, die es in Deutschland gibt, haben außerdem kaum noch Zeit zum Spielen. Sie sitzen in der Lateinnachhilfestunde, üben Geige oder lernen Chinesisch. In ärmeren Ländern gibt es kaum Spielplätze, dafür sind die Kinder ein natürlicher Bestandteil des öffentlichen Lebens; in Deutschland gibt es immer mehr Spielplätze, allesamt mit TÜV- und Biogütesiegel. Dafür fragt man sich: Wo sind eigentlich die Kinder? Und warum darf man nicht in der Natur, im Park, auf der Straße oder einfach in der Stadt spielen? Seltsames Land.

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© SZ vom 23.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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