Ehrenamt und Zivilcourage (7):Lieber Hasenfuß als Held

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Wir wollen helfen, trauen uns aber nicht. Polizeihauptkommissar Arno Helfrich erklärt, wie man Zivilcourage zeigt, ohne selbst in Gefahr zu geraten.

Mirja Kuckuk

Zivilcourage kann man lernen - in Kursen der Münchner Polizei. Arno Helfrich, Leiter der Abteilung Prävention und Opferschutz des Polizeipräsidiums München, erklärt, wie man nicht zum Helden, aber zum Helfer wird.

Ein Bild von trauriger Berühmtheit: Im Dezember 2007 schlagen die "Münchner U-Bahn-Schläger" einen alten Mann halbtot. Was tun, wenn man Zeuge wird? (Foto: Foto: AP)

sueddeutsche.de: Was bedeutet Zivilcourage aus Sicht der Polizei?

Arno Helfrich: Zur Zivilcourage gehört, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, Menschen zu helfen, die vermeintlich in Not sind. Gleichzeitig bedeutet es zu wissen, wie ich mir selbst helfen kann, wenn ich in eine bedrohliche Situation gerate. Zivilcourage bedeutet nicht Heldenmut, sondern das Richtige zu tun. Und das heißt: Wenn mir jemand Böses will, zu zeigen, dass er kein Opfer, sondern einen Gegner vor sich hat.

sueddeutsche.de: Das klingt theoretisch gut, aber hängt die Bereitschaft zu helfen nicht auch von der Erziehung und dem persönlichen Mut ab?

Helfrich: Natürlich spielt die Persönlichkeit und die Prägung durch das soziale Umfeld eine wichtige Rolle. Kinder nehmen sich in der Regel die Eltern zum Vorbild: Wie werden zu Hause Konflikte gelöst - mit Gewalt oder Gesprächen? Wie verhält sich der Vater, wenn er von der Polizei kontrolliert wird oder einen Strafzettel bekommt? Beschwert er sich oder sieht er seinen Fehler ein? Macht er der alten Dame im Bus Platz? Rücksicht auf andere nehmen Kinder wahr. Es wird jedenfalls niemand als Feigling oder Ignorant geboren.

sueddeutsche.de: Was tun, wenn man mutig ist, aber körperlich schwach?

Helfrich: Das ist nur ein vermeintliches Hindernis. Sich körperlich zur Wehr zu setzen, ist eine Art der Zivilcourage. Auch wenn man dem anderen physisch unterlegen ist, kann man ihn von seinem bösen Vorhaben abbringen. Es kann schon genügen, übers Handy Hilfe zu holen. Oder laut zu werden und Öffentlichkeit herzustellen: "Sie, ich bin in Gefahr, holen Sie Hilfe!" oder "Die Frau da drüben wird belästigt, holen Sie die Polizei! Verständigen Sie den Fahrer!" Das hat nichts mit körperlicher Überlegenheit oder Fitness zu tun.

sueddeutsche.de: Und diese Reaktionen lernt man bei Ihnen im Zivilcourage-Kurs?

Helfrich: Ja, wir bereiten auf Situationen vor, die uns im Alltag immer wieder passieren können. Wir simulieren mit Stühlen eine Busfahrt durch die Stadt. Die rund 15 Teilnehmer steigen nach und nach zu. Einer spielt den Busfahrer. Dann kommt eine schauspielerische Einlage des Trainers: Er macht eine Frau an. Oder er provoziert einen Streit. Wir beobachten: Was machen die Teilnehmer, wie reagiert der "Busfahrer"? Nach einer gewissen Zeit unterbrechen wir und reflektieren. Alle "Fahrgäste" werden befragt: Was haben sie erlebt, wie haben sie es empfunden, warum haben sie reagiert oder auch nicht?

sueddeutsche.de: Wie wird häufig reagiert?

Helfrich: Eine typisch männliche Reaktion ist, den Störer anzugehen - verbal oder körperlich. In dem Fall brechen wir die Übung ab, ehe es zu körperlichen Übergriffen kommt. Denn von dieser Reaktion raten wir generell ab. Auch ich als Polizist würde nicht als Einzelner den Aggressor attackieren - denn man weiß nie, wen man vor sich hat. Besonders schlimm ist es mit Betrunkenen, die unberechenbar reagieren können. Spielen Sie lieber den "Hasenfuß" als den Helden. Rufen Sie besser die Polizei - die ist bei der nächsten Bus- oder Bahnstation vor Ort. Viel wichtiger ist es, das Opfer aus der Situation zu befreien.

sueddeutsche.de: Aber wie kommt man an den Aggressoren vorbei?

Helfrich: Das ist natürlich situationsabhängig. Aber nehmen wir einmal die Situation in der U-Bahn: Eine Frau sitzt am Fensterplatz, zwei Männer setzen sich neben und gegenüber von ihr hin, versperren ihr den Weg und belästigen sie. Sprechen Sie nicht die Täter an, sondern das Opfer: "Was ist los? Kann ich Ihnen helfen?" Dann strecken Sie der Frau die Hand hin und ziehen sie an den Männern vorbei. Gehen Sie mit ihr sofort zum Fahrer oder zur Tür und betätigen den Notruf. Die Leute zögern viel zu häufig, den Notruf zu betätigen. Aber von Warnungen wie "Missbrauch ist strafbar" darf man sich nicht abschrecken lassen. Sie entscheiden, wann ein Notfall vorliegt und wann Sie die Polizei brauchen! Um die Zeit bis zur Ankunft der Polizei zu überbrücken, mobilisieren Sie die stummen Zeugen um sich herum. Im Übrigen sollte man sich immer an den Gang oder in die Nähe der Tür setzen, um solche "Fallen" zu vermeiden.

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sueddeutsche.de: Sie sprechen von stummen Zeugen. Sind wir eher ein Volk der Ängstlichen oder der Gleichgültigen?

Arno Helfrich, Erster Polizeihauptkommissar, warnt davor, Zivilcourage mit falschem Heldenmut zu verwechseln. (Foto: Foto: Bayerische Polizei / www.polizei.bayern.de)

Helfrich: Der Hilflosen, würde ich sagen. Es liegt nicht daran, dass man nicht helfen möchte, sondern dass man nicht weiß, was das Richtige ist. Wenn man aber nicht den Helden spielen will, sondern bedacht eingreift, Hilfe ruft und Mitmenschen mobilisiert, ist schon viel getan.

sueddeutsche.de: Im Kurs üben die Teilnehmer in simulierten Situationen. Wie sieht es in der Realität aus? Haben Sie positive oder negative Rückmeldungen?

Helfrich: 90 Prozent unserer Teilnehmer sind Frauen. Sie sagen im Anschluss, dass sie vorher gar nicht so recht gewusst hätten, wo sie Hilfe holen könnten und dass sie sich nicht getraut hätten, ohne weiteres den Notruf zu bedienen. Wir fordern jeden Teilnehmer auf, über den eigenen Weg nach Hause und zur Arbeit nachzudenken: Wo gibt es die nächste Möglichkeit, sich selbst in Sicherheit zu bringen, wenn man verfolgt wird. Wo ist das nächste Café? Wo kann ich klingeln und es mir wird geöffnet? Ist mein Handy immer griffbereit? In unseren Kursen lernt man keine Schläge, Würgegriffe oder Ähnliches, wir machen aber die eigene Körperhaltung bewusst. Stehe ich gekrümmt vor dem Angreifer oder breitbeinig und gerade und schaue ihm gerade in die Augen?

sueddeutsche.de: Wie geht man mit Negativerfahrungen um, wenn man vom Helfer zum Opfer wird?

Helfrich: Opfer können sich an uns wenden und wir vermitteln, wenn notwendig, den Kontakt zu Traumatherapeuten. Es gibt natürlich Helfer, bei denen es gewaltig in die Hose ging. Ein Mann hat zum Beispiel einer Schülerin geholfen, die attackiert wurde. Daraufhin wurde er krankenhausreif geschlagen und ist noch heute arbeitsunfähig. Er sagt zwar, er würde es jederzeit wieder tun. Dennoch fühlt er sich im Stich gelassen, denn niemand ist ihm zu Hilfe geeilt. Er hat leider die direkte Konfrontation mit den Tätern gesucht - und dadurch den Kürzeren gezogen. Gerade deshalb plädieren wir dafür: lieber ein Handyruf statt Heldenmut. Das sind vermeintliche Kleinigkeiten mit oft beachtlicher Wirkung.

Der "Polizei"-Kurs (Potentielle Opfer lernen individuell Zivilcourage und Eigeninitiative im Kurs) wird von der Münchner, Nürnberger und Augsburger Polizei angeboten - unter anderem in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule München - und ist kostenlos.

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