Beißattacke von Luis Suárez:"So was gibt es auch bei Primaten"

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"Er hat mich gebissen!" - "Er hat angefangen!" Luis Suárez hält sich die Vorderzähne, nachdem er seinen Gegenspieler Giorgio Chiellini in die Schulter gebissen hat. (Foto: REUTERS)

Zwei Männer raufen sich um einen Ball, der eine beißt den anderen in die Schulter. Das Szenario dürfte Müttern und Vätern bekannt vorkommen - vom Spielplatz. Im Gespräch mit Süddeutsche.de erklärt ein Psychologe, warum manche Erwachsene ihre Wut nicht zügeln können, und wie man sie in den Griff kriegt.

Von Violetta Simon

Luis Suárez hat es wieder getan: Kurz vor dem Tor der Südamerikaner biss Uruguays Stürmer Luis Suárez den Italiener Giorgio Chiellini in die Schulter. Schon in der Vergangenheit hatte sich Suárez zweimal in einen Gegner verbissen. Der Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer von der Freien Universität Berlin hat verschiedene Präventions- und Forschungsprojekte zur Vermeidung von Gewalt und Kriminalität unter Kindern und Jugendlichen entwickelt. Als Vorstandsvorsitzender leitet er den Verein "Fairplayer e.V", dessen Präventionsprogramme Lehrern, Sozialarbeitern und Sporttrainern zeigen, welche Maßnahmen sie gegen Gewalt und Mobbing anwenden können. Im Gespräch mit Süddeutsche.de erklärt der Psychologe, wie das Verhalten von Suárez einzuschätzen ist - und wie der Schiedsrichter damit umgehen hätte können.

Süddeutsche.de: Oliver Kahn hat über die Beißattacke des Spielers gesagt, es sei ein Verhalten, das man sonst nur von Tieren kenne. Als Mutter würde ich sagen: Sowas kennt man im Alltag hauptsächlich vom Spielplatz, wenn ein Kind dem anderen das Sandförmchen wegnimmt.

Herbert Scheithauer: Beißen gehört zum menschlichen Verhaltensrepertoire wie Treten und Schlagen auch. Dabei handelt es sich um eine Emotionsregulationsstrategie, die wir anwenden, wenn wir sehr starken Ärger empfinden. Es ist eine Art, unseren Unmut zu äußern, wenn wir in Bedrängnis sind oder uns extrem unter Stress fühlen. So eine WM ist enorm stressig und führt dazu, dass selbst Menschen, die es eigentlich besser wissen, auf archaische Handlungsweisen zurückfallen Sie sind in dem Moment so voller Wut, dass sie "um sich beißen". Das können Sie auch bei Primaten beobachten. Evolutionär gesehen zählt der Mensch ja zu den Primaten und steht anderen Tiergattungen sehr nahe. Und Tiere verteidigen sich und beißen um sich.

Wenn man jetzt mal an den Boxer Evander Holyfields Ohr denkt, das Mike Tysons Gebiss zum Opfer fiel: Könnte man von einem gewissen Berufsrisiko bei Sportlern sprechen?

Generell sind Personengruppen gefährdeter, im Affekt geschubst, getreten oder gebissen zu werden, die in besonders stressigen Situationen mit Menschen zu tun haben. Vor allem, wenn sie diese frustrieren, sie also davon abhalten, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das gilt für Fußballer und Athleten anderer körperbetonter Sportarten, für Schiedsrichter, aber auch für Kontrolleure oder Pflegekräfte.

Schon auf dem Spielplatz machen sich Kinder mit archaischen Verhaltensmustern wie diesen nicht gerade beliebt, besonders bei den Eltern anderer Kinder.

Deshalb gehört es zu unserer Sozialisation, dass wir lernen, unser Verhalten der jeweiligen Kultur und den gesellschaftlichen Normen anzupassen und damit umzugehen. Wir lernen, auf unsere Emotionen - wie zum Beispiel Ärger - angemessen zu reagieren.

Dennoch schien die Empörung über die Beißattacke zunächst größer als der Schock darüber, dass der viermalige Weltmeister zum zweiten Mal hintereinander in der Vorrunde ausgeschieden ist. Wie erklären Sie sich die heftigen Reaktionen Unbeteiligter?

Nunja, manchmal ist so eine überdeutliche Empörung auch eine Möglichkeit, von den wirklich wichtigen beziehungsweise unangenehmen Fakten abzulenken. Aber mal abgesehen davon: Wir empfinden es in der Regel als äußerst unangebracht, wenn sich jemand so verhält. Ich finde es nur schade, dass andere Formen unfairen Verhaltens im Fußball wie Treten, Schlagen oder sich einen Foul-Elfmeter zu erschleichen, nicht ebenso konsequent verurteilt werden. Dass nicht allgemein mehr Fairness gefordert wird. Das eigentlich Problematische bei Suárez ist ja, dass er wiederholt auffällig geworden ist. Hier liegt der Unterschied zu einem einmaligen Verhalten, wie es sicherlich auch andere Menschen zeigen.

Woran liegt es dann, dass manche Leute auch im Erwachsenenalter noch zubeißen?

Es gibt Menschen, die es nicht schaffen, ihre Emotionen zu regulieren oder ihre Wut in den Griff zu bekommen. Zum einen liegt es an ihrem Temperament. Vor allem aber haben Sie es nicht gelernt, angemessen in ihrem Verhalten zu reagieren.

Kann man es ihnen noch beibringen, so, wie man es Kindern beibringt?

Wenn es wirklich daran liegt, dass jemand seine Wut nicht im Griff hat, kann man auf Strategien, etwa aus dem Anger-Management-Training, zurückgreifen oder auf Maßnahmen, wie wir sie auch in unserem "fairplayer"-Projekt verwenden.

Welche Methoden wären das zum Beispiel? Mal angenommen, der Trainer oder der Team-Psychologe von Uruguay würden sich der Aufgabe annehmen.

Die Person kann lernen, ihre Körpergefühle wahrzunehmen und, wenn sie erkennt, dass es soweit ist, aus der Situation rauszugehen, bis sie sich beruhigt hat. Also nach der "Timeout"- und "Count till 10"-Methode. Außerdem sollte sie herausfinden: Welche Faktoren und Vorgänge sind es, die mich so provozieren, dass ich die Dinge nicht unter Kontrolle habe? Hat man diese Mechanismen erkannt, kann man versuchen, seine Reaktion zu verändern. Das funktioniert, wenn man das vermeintlich provokante Verhalten der Umwelt anders wahrnimmt, indem man es einfach umdeutet. Man kann sich etwa denken: "Das war nicht persönlich gemeint" oder "Das ist jetzt nicht so wichtig".

Schiedsrichter Marco Rodriguez war der Vorfall leider entgangen, deshalb hatte der Biss zunächst keine Konsequenzen für Suárez. Was wäre in dem Moment eine angemessene Reaktion gewesen? Platzverweis?

Der Platzverweis kann eine Lösung sein. Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass sich derjenige gerade dadurch nochmal stärker provoziert und ungerecht behandelt fühlen könnte. In jedem Fall ist es wichtig, dem Spieler klarzumachen, dass sein Verhalten inakzeptabel ist und er als letzte Konsequenz nie wieder an einem Spiel teilnehmen darf, wenn er es nicht umgehend ändert.

Also ähnlich wie auf dem Spielplatz: Wenn du jetzt nicht sofort aufhörst, packen wir den Sandeimer ein und gehen nach Hause!

Ja, wobei man aber eben auch nicht vergessen darf, die Person anschließend mit den entsprechenden Strategien zu unterstützen. Die meisten funktionieren sowohl bei Kindern als auch bei Jugendlichen oder Erwachsenen.

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