Viagra:Lust auf Rezept

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Vor 20 Jahren kam eine kleine blaue Pille auf den Markt, die das Liebesleben der Männer revolutionieren sollte. Aber ist Viagra seinem Ruf gerecht geworden?

Gastbeitrag von Volkmar Sigusch

Männer haben nicht einmal wie manche Tiere einen Penisknochen. Sie müssen also im Lustfall hoffen, irgendwie eine Gliedversteifung zu bekommen. Um sie zu erreichen, erproben sie seit Jahrtausenden allerlei: Ambra und Zibet, Moschus und Strychnin, Hosendall und Hosenwurz, Panax quinquefolium und Atropa mandragora, also chinesisches Ginseng und germanische Alraune, Mimosa pudica und Phallus impudicus, genannt Rutenmorchel oder Schamloser Schwamm, Taubenblut, die Krone der Aphrodite, die Zunge des Vogels Isop, Spanische Fliegen, Kydonische Äpfel, pulverisierte Nashornhörner und so weiter und sofort. Alles, was bisher versucht worden ist, war entweder ohne oder von zweifelhafter Wirkung oder auch noch mit Strapazen und Verstümmelungen verbunden, als im vergangenen Jahrhundert die operative Medizin hinzukam.

Endlich, vor zwei Jahrzehnten, erhielt die Männerwelt ein Geschenk, von dem sie jahrtausendelang geträumt hatte. Plötzlich ließ am Ende des 20. Jahrhunderts ein Medikament, das erprobt wurde und eigentlich die Herzkranzgefäße erweitern sollte, stattdessen die männlichen Glieder der Versuchspersonen unübersehbar anschwellen. Der Klarname dieses Medikamentes ist: 1-[[3-(6,7-dihydro-1-methyl-7-oxo-3-propyl-1H-razolo[4,3-D]pyrimidin-5-yl)-4-ethoxyphenyl]sulfonyl]-4-methylpiperazincitrat. Sein Rufname ist: Sildenafilcitrat oder kurz nur Sildenafil. Sein symbolischer Handelsname lautet: Viagra.

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Auf dem 91. Annual Meeting der American Urological Association im Mai 1996 wurde die Entdeckung der Öffentlichkeit mitgeteilt. Zwei Jahre später, Ende März 1998, ließ die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) das neue Arzneimittel zu, nachdem dessen Wirkstoff Sildenafilcitrat unter dem Firmencode UK-92420 an etwa 4500 Probanden getestet worden war. In der Europäischen Union und damit auch in Deutschland wurde das Präparat Viagra Mitte September 1998 zugelassen.

Medikamente können weder die männliche noch die weibliche Sexualität groß verändern

Offensichtlich wirkt Viagra dann recht gut, wenn die Erektionsunfähigkeit nicht komplett und nicht organisch, sondern psychosozial bedingt ist, wenn also insbesondere eher oberflächliche Konflikte und Versagensängste zu der Impotenz geführt haben. Kranke und ältere Männer sollten aber unbedingt vor der Einnahme von Viagra einen Arzt aufsuchen, der sich hinsichtlich der relativen und absoluten Kontraindikationen auskennt.

Einige Kulturwissenschaftler haben geschrieben, die Antibabypille sei die Frauen-Pille - und Viagra sei die Männer-Pille. Diese Gleichsetzung ist falsch. Denn immerhin wurde erst mithilfe "der Pille" die seit dem Mittelalter vorherrschende naturrechtlich-christliche Auffassung faktisch überwunden, nach der die Libido carnalis, das heißt die Fleischeslust, natur- und gottgewollt der Generatio prolis, das heißt der Fortpflanzung, zu dienen habe. Während also die Antibabypille eine neuartige Auffassung von Sexualität und Fortpflanzung lebbar machte, indem sie unsägliches Leid verhinderte, zahlen Viagra und seine Nachfolger Levitra und Cialis unter dem Strich dem alten Willen zur beliebigen Penetration Tribut. Die sogenannten Männer-Pillen können den mythischen Charakter der Sexualität nicht überbrücken und zu einem rationalen umwandeln. Nur ein Mannheitstraum soll wahr werden: die Gliedversteifung auf Knopfdruck.

Zum bisherigen Wesen der Sexualität und noch eindrucksvoller der Liebe gehört deren Unkalkulierbarkeit. Kein Mensch kann die körperlichen Zeichen der sexuellen Erregung willkürlich hervorrufen. Dass durch unsere Seele ein Riss geht, dass sie aus zwei Welten besteht, die nicht zusammenfallen, erleben Männer besonders plastisch, wenn sie in einer sexuell erregenden Situation impotent reagieren: Die eine Welt der Seele will die Erektion, die andere verhindert sie. Insofern umweht den immer potenten Mann etwas Mythisches: Wie ist es möglich, die beiden Welten zusammenfallen zu lassen? Die Pille für den Mann, so könnte man vielleicht sagen, überbrückt den Riss, überwindet den mythischen, antiquierten Charakter der Sexualität und revolutioniert ihn endlich zu einem rationalen und modernen.

Aber auch der impotente Mann berührt immer noch insofern den prämodernen Bereich des Mythischen, als er an das Geheimnis der Triebliebe erinnert und daran, dass der unwillkürlichen Erektion vor einem anderen die Aura des erotischen Coire, der Vereinigung in erregter Harmonie, zukommt, also etwas, was es in einer vernünftigen Welt nicht geben kann. Somit drängt sich in philosophischer oder auch nur kulturkritischer Hinsicht die Diagnose auf: dass Viagra die kulturelle Impotenz verstärkt, vielleicht sogar in einem revolutionierenden Ausmaß. Denn ein dank Viagra potenter Mann, dessen Penis sich versteift, hat gleichzeitig die Aura, die Mystik, vor allem aber den Phallus verloren, weil ihn das Potenzmittel aus der symbolischen Ordnung kippt, in der der Phallus in Differenz zum Penis der Signifikant der männlichen Macht ist, nach wie vor.

Doch genug der Spekulation: In medizinisch-therapeutischer Hinsicht ergibt sich, getrennt wie die Dinge nun einmal sind, ein andersartiges Bild. Wird der einzelne Patient oder das einzelne Paar mit seinem Problem im Sinne der Kalkül-Medizin ins Zentrum der Bewertung gerückt, lässt sich viel Positives über das neue Arzneimittel sagen: Zunächst einmal ist es erfreulich, dass es endlich ein Präparat gibt, das oral und damit ohne weitere unangenehme Manipulationen und außerdem diskret eingenommen werden kann, ein Mittel, das tatsächlich recht schnell eine im plazebokontrollierten klinischen Versuch nachgewiesene signifikante erwünschte Wirkung entfaltet. Das könnte - wie bei den Ovulationshemmern, der "Frauen-Pille" - damit zusammenhängen, dass die Substanz auf einem biotisch einleuchtendem Weg ihre Effekte entfaltet.

Um es ganz deutlich zu sagen: Medikamente wie Viagra können aber weder die männliche noch die weibliche Sexualität nennenswert verändern. Fehlende Anziehung oder Nähe, unbewusste und tiefer reichende Konflikte kann kein Präparat aus der Welt schaffen. Es wäre ja zu schön, um wahr zu sein, wenn wir über Pharmaka oder Rauschdrogen verfügten, die fehlende Liebesbeziehungen ersetzten und gestörte Sexualbeziehungen reparierten. Nach ersten Erprobungen sagen junge Männer übereinstimmend: "Es geht auch ohne." Alte Männer sagen nicht selten: "Es hat mir durchaus geholfen." Und Frauen sagen gar nichts, weil sie in der Regel überhaupt nicht wissen, was ihr Partner alles unternommen hat, um seine labile Potenz zu stärken.

© SZ vom 27.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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