Zur Selbstmordserie in Frankreich:Verstörender Protest

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Die neue französische Revolution: Immer mehr Angestellte begehen Selbstmord - weil sie das knallharte Geschäft nicht ertragen und herkömmlicher Protest im Land der Revolte nicht mehr zieht.

T. Haberkorn

Arbeitskämpfe und soziale Konflikte wurden in Frankreich stets mit größerer Vehemenz ausgetragen als hierzulande. Die Protestkultur der Franzosen folgt dabei einer Logik des Kräftemessens: Demonstrationen und Streiks, sei es von Lokführern, Studenten oder, wie in der vergangenen Woche, von Postangestellten, dienen zunächst einmal dazu, dem Gegner (in der Regel einem zu Kürzungen gewillten Geld- oder Arbeitgeber) die eigene Macht vor Augen zu führen.

Sie münden nicht selten in eine Blockadehaltung, die das sachliche Verhandeln noch erschwert, gleichzeitig aber die Geschlossenheit der eigenen Gruppe zementiert und oft zu beachtlichen Erfolgen führt. Große Teile der Bevölkerung tragen diese "Politik der Straße" mit und solidarisieren sich mit den Demonstrierenden, wenn deren Anliegen mit den Grundfesten des französischen Sozialstaats verknüpft ist.

In letzter Zeit wird die französische Öffentlichkeit mit einer verstörenden Form des Protests konfrontiert, die Politiker und Firmenchefs in immer größere Verlegenheit bringt. Die Berichte über Selbsttötungen am Arbeitsplatz reißen nicht ab. France Télécom, sechstgrößtes Unternehmen des Landes, wird von einer Suizidserie heimgesucht.

Am Montag stürzte sich ein Callcenter-Agent nahe Annecy von einer Brücke, nach Polizeiangaben hinterließ er einen Brief mit Anschuldigungen gegen seinen Arbeitgeber. Zwei Wochen zuvor sprang in der Pariser Konzernzentrale eine Angestellte, die am selben Tag über Umbesetzungen in ihrer Abteilung unterrichtet worden war, aus dem Fenster. In ihrem Abschiedsbrief schrieb die 32-Jährige, sie wolle eher sterben, als unter ihrem neuen Chef arbeiten. Wenige Tage zuvor hatte sich ein Techniker des ehemaligen Staatskonzerns vor Kollegen ein Messer in den Bauch gerammt. Er überlebte den Suizidversuch und sagte später, er habe mit seiner Aktion gegen die Arbeitsbedingungen demonstrieren wollen.

Wie ein makabrer Protestschrei nimmt sich der öffentliche Abschiedsbrief eines Mitarbeiters aus, der sich im Juli das Leben nahm: "Ich habe mich wegen meiner Arbeit bei France Télécom umgebracht. Das ist der einzige Grund: permanenter Druck, Arbeitsüberlastung, fehlende Weiterbildung, Desorganisation des Unternehmens, Terrormanagement."

"Terrormanagement"

In den vergangenen 18 Monaten kam es zu 24 Selbstmorden in der Belegschaft des Ex-Monopolisten, acht davon allein seit Anfang Juli. Gewerkschaftler prangern Stress und schlechten Führungsstil an, die Konzernleitung wies jede Verantwortung aber lange von sich. Es handle sich um menschliche Dramen und Einzelschicksale, und bei rund 100 000 Mitarbeitern liege die Zahl der Selbstmorde noch unter dem nationalen Durchschnitt.

Das Argument verfängt nur teilweise, da Risikogruppen wie Arbeitslose, Heranwachsende und alte Menschen die landesweite Suizidrate anheben. Unter den Opfern von France Télécom befanden sich aber auch leitende Angestellte, deren Arbeitsplatz nicht akut bedroht war. Konzernchef Didier Lombard sprach schon von einer "Selbstmord-Mode" und musste sich öffentlich für diese Wortwahl entschuldigen, nachdem ihn Arbeitsminister Xavier Darcos zum Rapport bestellt hatte.

Der Staat ist mit 27 Prozent noch immer größter Aktionär von France Télécom, 60 Prozent der Beschäftigten sind verbeamtet und begannen zu Zeiten, als die Bereitstellung von Telefonanschlüssen einen Dienst an der Allgemeinheit darstellte und kein knallhartes Geschäft.

Die Suizidfälle beschränken sich allerdings nicht nur auf France Télécom, wo man alle Umstrukturierungsmaßnahmen bis Ende Oktober gestoppt hat und, nach Worten Lombards, nach einem neuen "contrat social" für das Unternehmen sucht.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie die Politik reagiert.

Eine beunruhigende Anzahl von Selbsttötungen, die entweder am Arbeitsplatz stattfanden oder mit Verhältnissen am Arbeitsplatz verbunden wurden, gab es in der Vergangenheit auch von Peugeot und Renault und vom Atomkonzern Areva zu berichten. Nachdem sich die Medien zu diesem schwierigen Thema lange zurückgehalten hatten, lösten die Vorfälle bei France Télécom die Zungen.

Das Land debattiert über seine Selbstmordrate (nach Finnland die zweithöchste in Europa) und fragt sich, ob Management-Methoden angelsächsischer Prägung und die Privatisierung ehemals staatlicher Unternehmen tatsächlich immer mehr Arbeitnehmer bis zum Äußersten treiben.

Es ist schwer festzustellen, bis zu welchem Grade die bestürzenden Vorkommnisse auf Unzumutbarkeiten am Arbeitsplatz zurückzuführen sind. Doch selbst wenn psychopathologische und private Faktoren eine erhebliche Rolle bei dem Entschluss der Lebensmüden gespielt haben mögen, so stellt der Freitod immer auch eine Form des Protests gegen die Außenwelt, einen "Appell an die Anderen" (Erwin Ringel) dar, wie die Suizidforschung seit Émile Dürkheim herausgearbeitet hat.

Zieht man in Betracht, wie sehr sich das moderne Subjekt über seine Arbeit definiert und wie durch die allseits geforderte Flexibilisierung des Arbeitslebens die Grenze zwischen Privatem und Beruflichem verschwimmt, so werfen die Vorfälle ein düsteres Licht nicht nur auf die französische Unternehmenskultur, sondern auch auf die französische Gesellschaft als ganze.

Offenbar funktionieren die Mechanismen menschlicher Zusammenarbeit immer schlechter, die Alleinstellung der Arbeitnehmer - durch flachere und ausdifferenzierte Hierarchien - wird von vielen als Vereinzelung empfunden. In zahlreichen Kommentaren ist zu lesen, wie mühsam die Mitarbeiter im traditionell kollektivistisch organisierten Frankreich mit dem global befeuerten, neuerdings auch innerbetrieblichen Konkurrenzkampf zurechtkommen. Dass Firmen wie France Télécom oder Areva aus dem öffentlichen Dienst hervorgegangen sind, der die Privilegien seiner Bediensteten nicht über Privatisierungen hinweg erhalten konnte, tut ein Übriges.

Schlechter Scherz

Fügt man die Suizidfälle in eine Gesamtschau der nationalen Befindlichkeit, so ergibt sich ein alarmierendes Bild. Nirgendwo in westlichen Ländern wehren sich Arbeitnehmer so radikal und gewaltsam gegen Umwälzungen in der Arbeitswelt wie in Frankreich.

Im Frühjahr kam es zu einer Serie von Geiselnahmen von Firmenchefs, als im Zuge der Wirtschaftskrise Entlassungen angekündigt wurden. In einigen Fällen gelang es den Arbeitern, mittels "Bossnapping" erheblich höhere Abfindungen zu erpressen, so zum Beispiel Anfang April bei einer Werkschließung des britischen Klebstoffherstellers Scapa nahe der Schweizer Grenze. Die Briten verdoppelten die Entschädigung für die sechzig betroffenen Arbeiter auf 1,7 Millionen Euro, nachdem vier Manager auf dem Firmengelände von aufgebrachten Mitarbeiter festgesetzt worden waren.

Ebenfalls im April verwüsteten 500 Arbeiter die Unterpräfektur von Compiègne, weil ein Gericht die Klage gegen die Schließung eines Continental-Werks abgewiesen hatte. Im Juli wurde bei zwei Autozulieferern erstmals mit Fabriksprengungen gedroht.

Der bisherige Höhepunkt der Erpressungen: Mitte August drohten rund 60 Beschäftigte des bankrotten Transportunternehmens Serta in der Normandie tagelang, die Seine zu vergiften, wenn ihnen nicht 15 000 Euro Entschädigung pro Kopf zugesprochen würden. Mittlerweile wurde bekannt, dass in den angeblichen Giftfässern Öl lagerte, die Aktion war ein spektakulärer Bluff, der aber zumindest seine Medienwirkung nicht verfehlte. Nach ausführlicher Berichterstattung wurde eine Dumping-Übernahme der Spedition abgeblockt, das Handelsgericht verfügte vergangenen Donnerstag die Liquidierung des Unternehmens.

Der König und sein Kopf

Mit Strafverfolgung müssen die Streikenden nicht rechnen; wie in der großen Mehrzahl der Fälle drängt die Politik auf Deeskalation und versucht ein juristisches Nachspiel zu vermeiden. Der Serta-Standort bei Rouen wird weiterhin besetzt gehalten, und die Fernfahrer hoffen, bei der Abwicklung ihres ehemaligen Arbeitgebers besser wegzukommen als unter einem neuen Besitzer. In einem Blog von Le Monde wird ein Streikender mit den Worten zitiert, das nächste Mal "müsse sich wohl jemand von uns vor Ort erhängen", bevor der Arbeitskampf Beachtung fände. Das mag ein schlechter Scherz gewesen sein, spricht aber Bände über die Stimmung im Land.

Es scheint tatsächlich, als seien die Mittel des herkömmlichen Arbeitskampfes erschöpft, als gelänge es frustrierten Arbeitnehmern immer seltener, eine tragfähige Form des Protests zu organisieren. Die "Politik der Straße", die auf bevölkerungsweite Solidarität setzte und mit deren Hilfe kleine Interessengruppen in der Lage waren, die Gesamtgesellschaft gegen Sozialabbau zu mobilisieren, hat möglicherweise ihre Kraft verloren.

Vor zwei Jahren etwa scheiterten die Eisenbahner damit, die Reform ihrer Rentenregelungen mit einem Streik zu einem nationalen Anliegen zu erheben. 1995 hatte eine ähnliche Ausgangslage noch zur größten Arbeitsniederlegung seit 1968 geführt, welche die ehrgeizigen Pläne des neu angetreten Präsidenten Chirac zur Verschlankung des Sozialstaats zu Fall brachte.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die politische Kultur in Frankreich derart gewandelt hat, dass Proteste in immer kleineren, verzweifelteren und zugleich gewalttätigeren Formen verharren müssen. Mit der Globalisierung und der "Krise" scheinen höhere Mächte über die nationalen Volkswirtschaften gekommen zu sein, denen das (Arbeits-)Volk scheinbar ohnmächtig gegenübersteht.

Man weiß dabei gar nicht, wie ernst man die Unkenrufe von Politikern nehmen soll. Henri Guaino, der wichtigste Berater Sarkozys, sagte im Juli, Frankreich stehe vor keiner Revolution, möglicherweise aber vor einer "sozialen Explosion". Der Präsident selbst hütet sich seit Anbruch der Krise, den Volkszorn zu nähren.

Als sich im Dezember die Meldungen über das Ausmaß der Rezession überschlugen, hatte er in der ihm eigenen Mischung aus Überheblichkeit und entwaffnender Ehrlichkeit vor Parteimitgliedern erklärt: "Die Franzosen lieben es, wenn ich mit Carla in einer Kutsche fahre, und doch haben sie dem König den Kopf abgemacht."

© SZ vom 30.9.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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