Vietnamkriegsroman "Matterhorn":Hellwach im Dreckloch

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Hier lag auch Erzähler Karl Marlantes: US-Soldaten im Vietnamkrieg (Foto: Getty Images)

Der amerikanische Vietnam-Veteran Karl Marlantes hat 25 Jahre lang an seinem Roman "Matterhorn" geschrieben. Wie er darin alle Fronten und Facetten des Krieges zeigt, wird der Leser so schnell nicht wieder vergessen.

Von Christoph Schröder

Leichte Verluste, das ist ein Euphemismus, der die Öffentlichkeit eines Landes im Kriegszustand beruhigen soll. Leichte Verluste hatte die Bravo-Kompanie des 42. Marineinfanterieregimentes bei der Rückeroberung jenes "Matterhorn" genannten Berges im vietnamesischen Dschungel zu verzeichnen. Nach offiziellen Angaben. Was sich hinter dem manipulativ verwendeten (und durch absurde Rechenspiele überhaupt erst zu rechtfertigenden) Begriff verbirgt, das erzählt Karl Marlantes, geboren 1944 und selbst mehrfach mit Auszeichnungen bedachter Teilnehmer am Vietnamkrieg in den Jahren 1968 und 1969, in seinem knapp 700-seitigen Roman, den zu schreiben ihn etwa 25 Jahre seines Lebens gekostet hat.

Wer fragt, warum man noch etwas über diesen Krieg lesen sollte, dem sei Marlantes' Buch empfohlen. Nicht dass es als Kunstwerk perfekt wäre, das ist es nicht. Aber es fächert aus einer Innenperspektive und in einem geradezu hyperrealistischen, fiebernden Stil sämtliche Facetten von Tod, Leid und der Sinnlosigkeit des Kriegsalltags auf.

Waino Mellas heißt der Protagonist des Romans; eine Figur, die von Beginn an ambivalent angelegt ist: Ein kluger Kopf, frisch vom College gekommen, der sich freiwillig zum Dienst in Vietnam gemeldet hat, nicht zuletzt aus der taktischen Überlegung heraus, dass sich das für seine spätere Karriere im Zivilleben positiv auswirken würde. Zu Beginn, als die Tage träge dahinfließen und die Feinde keine Soldaten, sondern das Wetter, die Dschungelfäule, die die Haut eitern lässt, und die Blutegel sind, ist das Denken in Kategorien von Ruhm und Heldentum noch möglich.

Mittelteil von schwer erträglicher Spannung

Später nicht mehr. Denn anders als bei Denis Johnson, in dessen opulentem Roman "Ein gerader Rauch" die Pointe eher darin besteht, dass nichts passiert und niemand weiß, was er tut, werden die Schrecken des Kampfes bei Marlantes schnell konkret. Mellas' Einheit erhält den Auftrag, den "Matterhorn" getauften Berg (der "Eiger" ist nur wenige Kilometer entfernt) als Gefechtsstand auszubauen. Als das geschehen ist, wird die Kompanie abgezogen und zur Aufklärung in den Dschungel geschickt, um später den Befehl zu erhalten, das mittlerweile von der nordvietnamesischen Armee besetzte Matterhorn zurückzuerobern.

Der Mittelteil des Romans, in dem der noch unerfahrene Mellas, getrieben von den Befehlen einer unbarmherzigen Armeeführung, seinen Zug über Tage hinweg ohne Nahrung und ohne Wasser am Rande der Erschöpfung und der Halluzination durch das Dickicht führen muss, auf jede Bewegung, jedes Geräusch reagieren müssend, sind glänzend und von schwer erträglicher Anspannung. Die zermürbende Hölle wird nicht metaphysisch überhöht. Sie bleibt genau das, was sie ist - ein lebensgefährliches Dreckloch.

Nach und nach schält Marlantes aus den zahlreichen Namen, die zu Beginn ein Höchstmaß an Konzentration erfordern, um den Leseanschluss nicht zu verlieren, Charaktere heraus. Marlantes geht es um die Rehabilitierung des Einzelnen als Kontrast zu Dienstgraden und -nummern, deren Verwendung es einfacher macht, sie in Form von toten Körpern in die Heimat zurückzufliegen. Und es geht ihm darum, dass der Krieg das Menschsein in allen Facetten zum Vorschein bringt, auch in unguten, unerwünschten: Man weiß, dass man hier ist, um zu töten; man findet Gefallen daran: "Mellas' Sinne waren hellwach. Ein Schauer der Erregung überlief ihn. Er fühlte sich wunderbar mächtig und gefährlich."

Das Gelingen oder Misslingen einer Mission entscheidet sich letztendlich hauptsächlich anhand der Zahl der getöteten Feinde. Das (fiktive) 42. Marineinfanterieregiment ist gleichzeitig aber auch ein Spiegel der Gesellschaft ihrer Zeit. Der Krieg verläuft streng genommen an drei Fronten. Denn nicht nur nebenbei schwelen die Konflikte zwischen den weißen und den schwarzen, der Black-Power-Bewegung nahestehenden Soldaten und entladen sich immer wieder in Gewalttätigkeiten innerhalb der Truppe. Zum anderen wächst bei den Soldaten das Bewusstsein dafür, in der Heimat für das, was sie tun, nicht als Helden verehrt zu werden. Die Perspektiven heißen Tod, Verachtetwerden oder Verrat.

Karl Marlantes ist kein eleganter Erzähler. Er hat hin und wieder eine Neigung zum Überexpliziten und auch zu psychologischen Kurzschlüssen. Die schwächsten Passagen in "Matterhorn" sind nicht ganz zufällig diejenigen, in denen gelegentlich aus der Innenansicht einzelner Soldaten Erinnerungen an die Kindheit oder die Familie zu Hause evoziert werden. Da gerät Marlantes in die Nähe der Klischees. Das ist aus der Binnenperspektive des Romans erklärbar - so weit weg ist diese friedliche Parallelwelt, dass sie sich nur noch aus Fertigbausteinen zusammensetzen lässt.

Mindestens fragwürdig ist auch der etwas bizarre Versuch einer Engführung von Kriegshandlung und Holocaust: "Plötzlich verstand er, warum die Opfer der Konzentrationslager so ruhig in die Gaskammern gegangen waren. Im Angesicht des Grauens und des Wahnsinns war es das einzig Menschliche, was sie tun konnten." Schließlich war die Invasion in Vietnam ein Angriffskrieg. Wie Marlantes allerdings davon erzählt, wird man so schnell nicht vergessen.

Karl Marlantes: Matterhorn. Ein Vietnam-Roman. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Arche Verlag, Zürich 2012. 672 Seiten, 24,95 Euro.

© SZ vom 05.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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