Tagung über Menschenrechte:Den Haag - Müllhalde für afrikanische Diktatoren

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Der frühere kongolesische Rebellenführer Lubanga geht ins Gefängnis und viele Politiker jubeln. Doch der Gerichtshof in Den Haag und die Menschenrechte insgesamt sollten kritisch betrachtet werden. Wie eine Tagung in Jena zeigte, eignen sie sich hervorragend, um alles Mögliche und Unmögliche zu legitimieren.

Franziska Augstein

Die Zeitgeschichte hat ein neues Thema gefunden: Die Menschenrechte. Wer sich damit beschäftigt, entdeckt sehr schnell, dass mit ihrer Hilfe alles Mögliche und Unmögliche legitimiert werden kann. Ihre Anrufung dient dabei oft als Totschlagargument: Denn wer wäre schon so blöd, offen zuzugeben, dass er gegen die Einhaltung der Menschenrechte ist?

Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat den früheren Rebellenführer Thomas Lubanga Dyilo zu 14 Jahren Haft verurteilt. Der Kongolese war im März wegen der gewaltsamen Rekrutierung von Kindersoldaten für schuldig befunden worden. (Foto: dpa)

Menschenrechte sind also ein wichtiges Mittel der politischen Rhetorik. Genau darüber wurde unlängst in Jena mit internationaler Besetzung debattiert, das Jena-Center für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und das Imre Kertész-Kolleg hatten gemeinsam dazu eingeladen.

Die Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 und die "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" der Französischen Revolution sind die Vorläufer der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte", die 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Die deutschen Angeklagten bei den seit 1945 laufenden Nürnberger Prozessen waren pikiert, in der Präambel den Verweis auf "Akte der Barbarei" zu finden, "die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen": Denn damit waren schließlich sie selbst gemeint. Norbert Frei (Jena) erzählte, er habe noch 1996 bei einer juristischen Ringvorlesung allerlei rückwärtsgewandte Einwände zu hören bekommen, als er in einem Vortrag die historische Bedeutung des "International Military Tribunal" würdigte.

Der Kalte Krieg brachte den "Menschenrechten" dann eine Hochkonjunktur. Im Westen wurde das Wort gern benutzt, wenn man der Sowjetunion rhetorisch eins auswischen wollte. In Großbritannien beriefen sich reaktionäre Tories auf die Menschenrechte. Der Jurist, Befürworter der Todesstrafe und einflussreiche Parlamentsabgeordnete David Maxwell Fyfe, der damals nie vor fünf Uhr Nachmittags im Unterhaus zu sehen war, warnte so vor vermeintlich "totalitären Kräften" in der Labour Party. Auch in Frankreich versuchten konservative Katholiken konfessionelle Schulen mit Bezug auf die Menschenrechte zu fördern. Über beide Bewegungen berichtete Marco Duranti (Sydney).

Jene Westler hingegen, die erkannten, wie sehr die Menschenrechte politisch instrumentalisiert wurden, hingen einer anderen bis heute oft verwendeten Erzählung an. Annette Weinke (Jena) fasste sie zusammen: Ursprünglich hätten Angehörige der Regierung Roosevelt, Widerständler und einige Völkerrechtler eine sozusagen überpolitische Vorstellung von den Menschenrechten gehabt, die aber leider "in den realpolitischen Niederungen des Ost-West-Konflikts versunken sei". An diese guten Wurzeln sollen Einrichtungen wie der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag nun anknüpfen, so eine heute weit verbreitete Meinung.

Den Haag - "Müllhalde" für afrikanische Diktatoren

Aber trägt der Internationale Strafgerichtshof wirklich zur Umsetzung des Menschenrechtsgedankens bei? Die Juristin Anja Mihr (Utrecht) hat da ihre Zweifel. Im vergangenen März wurde das erste Urteil erlassen, gegen den Warlord Thomas Lubanga Dyilo aus dem Kongo. Viele Politiker jubelten. Aber die Richter, die den Prozess führten, hatten sich aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage gesehen, Lubanga zu verurteilen. Statt ihrer sprachen Richter das Urteil, die den Prozess gar nicht verfolgt hatten. Anja Mihr betrachtet das als verheerend.

Außerdem teilt sie die unter Experten zunehmend verbreitete Meinung, dass der Gerichtshof in Den Haag Gefahr laufe, als "Müllhalde" für afrikanische Diktatoren missbraucht zu werden: Neue afrikanische Herrscher schaffen sich den innenpolitischen Streit mit Konkurrenten vom Hals, indem sie ihre besiegten Vorgänger Den Haag überlassen.

So, wie viele Afrikaner heute den Interessen von Warlords und Diktatoren ausgeliefert sind, so ausgeliefert fühlten sich auch viele Juden nach dem Zweiten Weltkrieg. Deren Schicksal stellte Atina Grossmann (New York) anschaulich dar. Ob sie nun nach Israel auswandern wollten oder nicht: In jedem Fall sei vielen an der Gründung des Staates Israel gelegen gewesen, weil sie sich davon einen potenten Fürsprecher erhofften.

David Ben-Gurion erschreckte die Briten mit dem Satz: "Wir brauchen eine Million Juden in Palästina." Die gewaltsame Vertreibung Zigtausender Palästinenser nahm die geschwächte Protektoratsmacht Großbritannien dann aber hin. Als Ben-Gurion Israel im Mai 1948 für unabhängig erklärte, stimmten die USA am selben Tag zu, die Sowjetunion folgte zwei Tage später.

Bei der Erklärung der Menschenrechte im Dezember 1948, wenige Monate nach der Berlin-Blockade, enthielt sich die Sowjetunion dagegen der Stimme. Grundsätzlich war es ihr zwar ein Anliegen, an dem teilzuhaben, was Lora Wildenthal (Houston) "die Sprache der Menschenrechte" nennt: Wer international mitreden wollte, musste diese Sprache nämlich beherrschen. Stefan Troebst (Leipzig) berichtete, dass sowohl Stalins Verfassungsgesetze von 1936 als auch Breschnews überarbeitete Verfassung von 1977 Grundrechte und Freiheiten garantiert hätten.

Doch wozu war die zweite Verfassung nötig, wenn die Kreml-Herrscher ohnedies nicht gedachten, sich danach zur richten? Ganz einfach: 1977 war der Klassenkampf offiziell überwunden, er musste also auch aus der Verfassung verschwinden. Im übrigen stellte diese noch 1977 die Anliegen von Staat, Partei und Kollektiv über die des Individuums. Um 1977 aber, so fügte Troebst an, sei auch ein neues Strafgesetzbuch herausgegeben worden, das "ganz modern und aufgeklärt" gewesen sei.

Was sind die Menschenrechte wert?

Die frechste und schönste Frage der Tagung in Jena stellte Eric Weitz (New York), ein Spezialist für deutsche Geschichte. Kurz gesagt lautete sie so: "Menschenrechte? Ja und? Wer waren die Gegner?"

Erstaunlicherweise gab es welche. Jan Eckel (Freiburg) zählte einige auf: Gandhi und Neru hielten alle Reden über Menschenrechte für leere Versprechungen. Die Briten, so meinten sie, würden sich beizeiten schon zurechtlegen, warum die Menschenrechte auf Inder gerade nicht anwendbar seien. Auch im späteren Vietnam versuchte Ho Chi Minh durch gezielte Provokationen zu demonstrieren, wie unzureichend die französischen "Droits de l'homme" eigentlich waren. Und Frantz Fanon, der sich für die algerische Befreiungsbewegung engagierte, hielt das Reden von Menschenrechten sogar für kompromisslerisches Klüngeln mit den Unterdrückern.

Was sind die Menschenrechte wert? Das ist am Ende eine Frage der Umsetzung. Norbert Frei brachte die Sache auf den Punkt: Von Menschenrechten reden ist "subversiv", man tut es, wenn man politisch etwas ändern will; "emanzipatorisch" ist es aber oftmals nicht. Der Jurist und Historiker David Abraham (Miami) riet dazu, die Menschenrechte als ein "Instrument" zu begreifen, das eingesetzt werden kann wie ein Hebel, wenn auch, wie er grinsend anfügte, "nicht wie der archimedische Hebel".

Die Tagung war gelungen. Angemerkt sei nur, dass der Historiker Rafael Biermann das nächste Mal, wenn er eine quasi-offizielle Darstellung des Kosovo-Krieges liefert, darauf hinweisen sollte, dass er 1999 im Planungsstab der Bundeswehr tätig war. In Jena blieb es dem Kommentator Constantin Goschler überlassen, das Publikum darüber aufzuklären.

© SZ vom 09.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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