SZ-Serie: "Wort für Wort", Teil 5:Lyrik zum Selbermachen

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Karin Fellner lässt Schüler dichten und coacht den Nachwuchs am Telefon

Von Barbara Hordych, München

Natürlich weiß Karin Fellner um die Berührungsängste gegenüber der Gattung Lyrik. Sie weiß aber auch, wie man diesen begegnen kann. Jüngst war die mehrfach ausgezeichnete Münchnerin als einzige Lyrikerin unter Prosaschriftstellern beim Autoren-Speeddating im Literaturhaus zu erleben. Wo sie den Besuchern am Tisch gegenübersaß und zu Stichworten wie "Sehnsucht", "Einsamkeit" oder "Heimat" passende eigene Gedichte heraussuchte, etwa aus ihrem 2015 erschienenen Sammelband "Ohne Kosmonautenanzug". Diese las sie ihrem Gegenüber mit leiser, anheimelnder Stimme vor. Kaum hatte sie ihren Vortrag beendet, riss sie die betreffende Seite aus dem Buch heraus - um sie dem erst erschrockenen, dann aber hoch erfreuten Besucher mitzugeben.

Ihr unkonventioneller, "barrierefreier" Umgang mit Lyrik prädestiniert Karin Fellner geradezu für deren Vermittlung an die jüngere Generation. So gilt die Dichterin, die Psychologie und Literaturwissenschaft in Konstanz und München studiert hat, nicht nur als eine der treibenden Moderatoren-Kräfte der zeitgenössischen Münchner Lyrikszene, sie gibt auch Schreibseminare für das Lyrik Kabinett und das Literaturhaus. Dazu gehört noch das Modellprojekt "Lust auf Lyrik" der Münchner Stiftung Lyrik Kabinett, das Karin Fellner seit sieben Jahren in Schulen anbietet. Im Rahmen des Deutschunterrichts arbeitet sie mit den Schülern kreativ, die Ergebnisse werden öffentlich präsentiert.

Die Poesie sehe sie als eine Möglichkeit, die "Einbahnung des Denkens" aufzubrechen, erläutert Karin Fellner ihr "Lyrik-Credo" in einem Haidhauser Café. In den Gymnasien gelten den Schülern Gedichte oft als etwas Hehres, dem man mit Scheu gegenübertrete, und das wenig Spaß mache. Den Gegenbeweis tritt Karin Fellner mit Schere, Kleber und Edding an. "Ich ermuntere die Schüler dazu, die Gedichte von Klassikern wie Goethe auseinanderzuschnippeln und mit Zeilen von Gegenwartsautoren zu kombinieren. Oder die Zeilen nach ganz anderen Kriterien neu zusammenzusetzen: Etwa der Länge nach oder einfach alphabetisch". Ein "Runterkommen der Sprache" nennt sie das, "frei nach Jandl, der ja auch schon die Poesie und die Freiheit zusammendachte".

Um die Sprache zu "ent-automatisieren", fordert sie die Schüler mithilfe des von ihr so genannten "Metapherngenerators" auf, eigene Bilder zu schöpfen. Gerne verwendet sie als kreativen Impuls das Hohelied Salomos: Dessen Vergleiche wie "deine Augen sind wie Tauben" oder "deine Haare sind wie Ziegen" würden die Schüler erst einmal zum Lachen reizen; gäben aber auch Anstoß zu eigenen Vergleichen. "Dafür lege ich ihnen Worte aus Fachsprachen nahe, aus Gebieten wie Kosmetik, Nahrung, Technik oder Computern". So verlören die Schüler nicht nur ihre Hemmungen der Dichtung gegenüber, sondern entdeckten auch ihr Talent für eigene Kreationen: "A: Deine Augen sind Wunderkerzen. / B: Dein Haar ist wie lange, süße, schwarze Lakritze. / A: Deine Zähne sind wie Tic-Tacs, weiß und glänzend. / B: Deine Lippen sind wie ein Energydrink, erfrischend und wachmachend. / A: Dein Hals ist ein schöner schlanker Turm. / B: Deine Stimme ist wie Daunen, weich und schmeichelnd. / A: Und deine Liebe ist lieblicher als eine kleine schnurrende Katze" lautete beispielsweise "ein Dialog der Komplimente", der jüngst in einer siebten Klasse entstand.

Und was sagen die Lehrer zu diesem unkonventionellen Umgang mit Sprache"? Karin Fellner schmunzelt. "Die lasse ich bei meinen Fortbildungen mit der Black-Out-Technik experimentieren", sagt die Lyrikerin. Dabei werden aus einem Zeitungstext immer mehr Worte mit einem schwarzen Filzstift ausgestrichen, so dass nur noch "Wortinseln" zurückbleiben. Die die Lehrer zu neuen Gedichten zusammensetzen sollen. Für viele Erwachsene ein recht irritierender Prozess. "Soll es sich nicht reimen?" oder "Soll es wirklich keinen Sinn ergeben?" würde sie häufig etwas bange gefragt. "Doch je länger sie streichen und neu montieren, desto mehr Freude bereitet ihnen die Beschäftigung mit dem Material Sprache", hat Fellner erlebt.

In den Mittelschulen hingegen mache sie andere Erfahrungen. Dort habe man den Schülern das materielle, verwertungsorientierte Denken so eingepflanzt, dass sie sich erst einmal mit recht aggressiven Fragen wie "Wozu soll das gut sein?" und "Damit kann ich doch kein Geld verdienen!" konfrontiert sehe. "Es ist schon traurig, wie man diesen Schülern das Träumen und die Phantasie ausgetrieben hat, um all ihr Handeln auf den Nutzen zu reduzieren". Dazu erlebe sie bei ihnen eine große Unsicherheit im Umgang mit der Sprache. "Sie reden schnell, sind schlagfertig und erzählen gerne. Aber das Aufschreiben ist für sie schwer." Deswegen gehe sie bei der Verschriftlichung eher "sehr kleinteilig" vor, zuweilen fordere sie die Schüler auch auf, ihre Gedanken auf der Bühne zu performen oder zu rappen, wenn ihnen das leichter falle. "Das ist zwar anstrengend, aber es lohnt sich: Gerade für diese Jugendlichen ist es eine große Befreiung, ihre Gefühle einmal frei vom konkreten Verwertungsgedanken auszudrücken".

Aber inwieweit lässt sich Lyrik-Schreiben überhaupt lehren - und gar beurteilen? Doch, das geht, sagt Karin Fellner. Auch wenn es sich zugegebenermaßen um eine Gattung handele, die stark emotional und sehr subjektiv sei. Regelmäßig bietet sie beispielsweise professionelles Telefoncoaching an. Fünfzig Euro kostet die Beratung bei ihr, inklusive Vorbereitung. Einem jungen Mann hat sie vor kurzem nach vorheriger Lektüre seiner Gedichte am Telefon gesagt, sie spüre, dass ihn ein ganz bestimmtes Thema beschäftige. "Aber Ihre Worte transportieren das nicht", erklärte sie ihm. Und riet ihm, ein Bild, eine Metapher, noch zu erweitern. Wie so häufig in solchen Fällen hat sich auch dieser Anrufer nach einer gewissen Zeit mit seiner Überarbeitung wieder bei ihr gemeldet. Gewundert hat das Karin Fellner nicht: "Wenn der Stachel des Schreibens einmal da ist, bleibt er."

© SZ vom 05.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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